Es handelte sich um Jago Reeth. Er hatte beide Hände um sein Glas Guinness gelegt, die Füße um die Stuhlbeine geschlungen und saß vornüber gebeugt, sodass seine Brille die an der Schläfe mit einem Stückchen Draht repariert war auf die Spitze seiner knochigen Nase gerutscht war. Er trug seine übliche Montur aus speckigen Jeans und Sweatshirt, und seine Stiefel waren wie immer grau vom Polystyrolstaub, der in der Surfbrettwerkstatt anfiel. Er hatte das Rentenalter längst erreicht, aber wenn man ihn darauf ansprach, konterte er gerne: Alte Surfer sind eben nicht totzukriegen. Sie suchen sich nur einen anständigen Job, wenn ihre Tage auf dem Wasser vorüber sind.
Der Grund, warum diese Tage für Jago vorüber waren, war Parkinson. Selevan verspürte stets eine Art ruppiges Mitgefühl für seinen Altersgenossen, wenn er sah, wie dessen Hände zitterten. Aber Jago winkte immer nur ab. »Ich hatte meine gute Zeit«, sagte er gern. »Jetzt sind eben die jungen Leute dran.«
Darum war er der perfekte Beichtvater für Selevan, und auf die Frage: »Wie geht's?«, berichtete er, sowie er seinen Glenmorangie in Händen hielt, von seinem morgendlichen Zusammenstoß mit Tammy. Jago führte sein Glas an die Lippen. Er brauchte dazu beide Hände, bemerkte Selevan.
»Wenn das so weitergeht, wird noch eine Lesbe aus ihr«, schloss er seinen Bericht.
Jago zuckte die Schultern. »Na ja, Kumpel, Kinder muss man das tun lassen, was sie tun wollen. Alles andere bringt nichts als Kummer. Und ob's das wert ist…«
»Aber ihre Eltern…«
»Was wissen Eltern schon? Was wusstest du denn, wenn du mal ehrlich bist? Und du hattest wie viele? Fünf Kinder? Und ich wette, du hattest von Tuten und Blasen keine Ahnung, als du sie großgezogen hast.«
Er hatte tatsächlich in vielerlei Hinsicht von Tuten und Blasen keine Ahnung gehabt, gestand Selevan sich ein auch in Bezug auf seine Frau. Er war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, wütend darüber zu sein, dass er sich mit dem blöden Milchvieh herumplagen musste, statt das zu tun, was er wirklich wollte: zur Navy gehen, die Welt bereisen, nichts wie raus aus Cornwall. Er hatte seine Rolle als Vater genauso vermasselt wie die als Ehemann, und als Landwirt war er auch nicht viel besser gewesen.
Seine Stimme klang nicht unfreundlich, als er sagte: »Du hast leicht reden, Kumpel.« Denn Jago hatte keine Kinder, war nie verheiratet gewesen und hatte seine Jugend und seine mittleren Jahre damit verbracht, den Wellen nachzufolgen.
Als Jago lächelte, entblößte er Zähne, die viel gearbeitet, aber wenig Wartung erfahren hatten. »Hast ja recht«, lenkte er ein. »Ich sollte besser die Klappe halten.«
»Wie soll ein alter Knacker wie ich so ein junges Ding überhaupt verstehen?«, fragte Selevan.
»Ich glaube ja, man kann nicht viel mehr tun als dafür sorgen, dass sie nicht allzu früh schwanger werden.« Jago kippte den Rest seines Guinness hinunter und stand auf. Er war groß, und er brauchte einen Moment, um seine langen Stelzen von den Stuhlbeinen zu entflechten. Während Jago am Tresen auf ein frisches Bier wartete, dachte Selevan darüber nach, was sein Freund gerade gesagt hatte.
Es war ein guter Rat, nur ließ er sich auf Tammy nicht anwenden. Sie lief mitnichten Gefahr, schwanger zu werden. Sie hatte schließlich nicht das geringste Interesse an dem, was ein Mann zwischen den Beinen hatte. Wenn das Kind je schwanger würde, wäre dies ein Grund zum Feiern, kein Anlass zu der Entrüstung, die Eltern und andere Verwandte in einem solchen Fall üblicherweise an den Tag legten.
»Ich hab noch nie eine Lesbe im Haus gehabt«, sagte er, als Jago zurückkam.
»Warum fragst du sie denn nicht einfach danach?«
»Ach, und wie um Himmels willen soll ich das formulieren?«
»"Ist dir eine Muschi lieber als ein Schwanz, mein Kind? Oh, wirklich? Wie kommt's?"«, schlug Jago vor und grinste breit. »Sieh mal, Kumpel, du musst ihr die Tür aufhalten und vorgeben, das, was sich vor deiner Nase abspielt, gar nicht zu bemerken. Kinder sind heute ganz anders als zu der Zeit, als wir jung waren. Sie fangen zwar früh an, aber sie haben keine Ahnung, was sie da eigentlich treiben. Deine Aufgabe ist es, sie zu führen, ohne sie herumzukommandieren.«
»Das versuche ich ja«, erwiderte Selevan.
»Das Entscheidende ist eben, wie man es macht.«
Da konnte Selevan nicht widersprechen. Bei seinen eigenen Kindern hatte er alles falsch gemacht, und jetzt tat er mit Tammy nichts anderes. Er musste zugeben, dass Jago Reeth im Gegensatz zu ihm selbst ein Talent hatte, mit jungen Leuten umzugehen. Selevan hatte mehrfach beobachtet, wie beide Angarrack-Kinder Jago in seinem Caravan in Sea Dreams besucht hatten. Und als dieser Junge Santo Kerne bei Selevan vorbeigeschaut hatte, um ihn um Erlaubnis zu bitten, den Weg zum Strand über sein Gelände abkürzen zu dürfen, hatte er letztlich mehr Zeit mit dem alten Surfer verbracht als auf dem Wasser. Zusammen hatten sie Santos Board gewachst, die Finnen gesetzt, es auf Unebenheiten und Kerben untersucht, oder sie hatten in Liegestühlen auf dem Stückchen struppigen Rasen vor Jagos Caravan gesessen und sich unterhalten. Worüber nur?, fragte sich Selevan. Wie redete man mit einer anderen Generation?
Als hätte er die Frage laut gestellt, antwortete Jago: »Es hat mehr mit Zuhören zu tun als mit allem anderen. Man darf ihnen keine Vorträge halten, ganz egal wie sehr es einen dazu drängt. Oder eine Predigt. Mein Gott, wie gern ich ihnen manchmal eine Predigt halten würde! Aber ich warte, bis sie von selber kommen und mich fragen: "Also, was denkst du?" Und dann hat meine Stunde geschlagen. So einfach ist das.« Er zwinkerte. »Sie haben es aber auch nicht leicht. Verbring eine Viertelstunde mit ihnen, und das Letzte, was du zurückwillst, ist deine Jugend. Trauma und Tränen, ich sag's dir…«
»Du meinst das Mädchen«, sagte Selevan wissend.
»Ja, ja. Das Mädchen. Ist ordentlich auf die Nase gefallen. Hatte mich vorher nicht um Rat gefragt. Hinterher im Übrigen auch nicht.« Er nahm einen großzügigen Schluck aus seinem Glas und ließ ihn im Mund umherrollen vermutlich die einzige Mundhygiene, die er je betrieb, mutmaßte Selevan. »Aber zu guter Letzt habe ich meine eigene Regel gebrochen.«
»Du hast ihr eine Predigt gehalten?«
»Ich habe ihr gesagt, was ich an ihrer Stelle täte.«
»Und zwar?«
»Den Bastard umbringen.« Jago sagte es leichthin, so als wäre Santo Kerne nicht so tot wie eine Weihnachtsgans auf der Festtagstafel. Selevan zog unwillkürlich die Brauen in die Höhe, doch Jago fuhr fort: »Aber weil das natürlich unmöglich war, habe ich ihr geraten, es quasi symbolisch zu tun: die Vergangenheit zu begraben. Sich davon zu verabschieden. Sie auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Einfach alles ins Feuer zu werfen, was irgendwie an sie beide zusammen erinnert. Tagebücher. Briefe. Karten. Fotos. Geschenke zum Valentinstag. Teddybären. Gebrauchte Kondome von ihrer allerersten Nummer falls sie diesbezüglich sentimentale Gefühle hätte. Einfach alles. Ich hab ihr gesagt, sie soll all das loswerden und mit ihrem Leben weitermachen.«
»Auch das ist leicht gesagt«, warf Selevan ein.
»Da hast du recht. Aber wenn es das erste Mal für ein Mädchen war und sie bis zum Äußersten gegangen sind, ist es der einzige Weg. Sie muss eine Art seelischen Hausputz machen, um den Kerl loszuwerden, wenn du mich fragst. Wozu sie sich letztlich sogar durchgerungen hatte, bis… Na ja, bis es passiert ist.«
»Schlimme Sache.«
Jago nickte. »Das macht es für das Mädchen noch schrecklicher. Wie soll sie sich jetzt im Nachhinein ein realistisches Bild von Santo Kerne machen? Nein. Sie wird alle Hände voll zu tun haben, über diese Sache hinwegzukommen. Ich wünschte mir, all das wäre nicht passiert. Er war kein übler Bursche, aber er hatte seine Macken, und sie hat das nicht rechtzeitig erkannt. Erst als der Zug längst Fahrt aufgenommen hatte. Und da blieb ihr nichts anderes mehr übrig, als beiseitezuspringen.«