Wie üblich nahm sein Vater den Anruf mit einem gebellten »Ja, bitte?« entgegen. Und als Ben nicht sofort etwas sagte, blaffte er hinterher: »Wenn Sie da sind, reden Sie! Wenn nicht, verschwinden Sie aus der Leitung!«
»Hier ist Ben.«
»Welcher Ben?«
»Benesek. Ich hab dich doch nicht geweckt, oder?«
Nach einer kurzen Pause entgegnete Eddie: »Und was, wenn doch? Nimmst du neuerdings auf irgendwen Rücksicht außer auf dich selbst?«
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, wollte Ben schon kontern. Und ich hatte den besten aller Lehrer. Stattdessen sagte er jedoch: »Santo ist tot. Es ist gestern passiert. Ich dachte, du solltest das wissen, denn er hatte dich gern, und vielleicht beruhte das ja sogar auf Gegenseitigkeit.«
Wieder Schweigen. Diesmal währte es länger. Und dann: »Bastard.« Seine Stimme klang so angespannt, dass Ben dachte, sie würde brechen. »Bastard. Du änderst dich nie, was?«
»Willst du hören, was mit Santo passiert ist?«
»In was hast du ihn reingeraten lassen?«
»Was ich dieses Mal getan hab, meinst du?«
»Was ist passiert, verdammt? Was zum Teufel ist passiert?«
Ben berichtete so knapp wie möglich. Zum Schluss erwähnte er, dass es Mord gewesen sei; er nannte es vorsichtig ein Tötungsdelikt. »Jemand hat an seiner Kletterausrüstung herumgepfuscht«, sagte er.
»Gott verflucht!« Eddie Kernes Stimme drückte jetzt nicht mehr Wut, sondern Entsetzen aus. Aber der Zorn kehrte schnell zurück: »Und was zum Henker hast du getrieben, während er an irgendeiner verfluchten Klippe herumgekraxelt ist? Hast du ihm dabei zugesehen? Ihn angestachelt? Oder hast du's derweil mit ihr getrieben?«
»Er war allein. Ich wusste nicht mal, dass er zum Klettern rauswollte. Ich weiß auch nicht, warum er's getan hat.« Der letzte Satz war gelogen, aber Ben konnte es nicht ertragen, seinem Vater zusätzliche Munition zu liefern. »Erst sah es nach einem Unfall aus. Aber als sie sich seine Ausrüstung genauer angesehen haben, war klar, dass jemand sie manipuliert hat.«
»Wer?«
»Das wissen sie noch nicht, Dad. Wenn sie es wüssten, würden sie jemanden verhaften, und die Sache wäre erledigt.«
»Erledigt? So sprichst du vom Tod deines Sohnes? Von deinem Fleisch und Blut? Von dem Menschen, der deinen Namen hätte weitertragen sollen? Erledigt? Die Dinge werden erledigt, und du machst einfach so weiter? Ist es das, Benesek? Du und Wieheißtsienochgleich spaziert einfach in die Zukunft und lasst die Vergangenheit hinter euch? Aber das kannst du ja hervorragend. Genau wie sie. Sie versteht sich ganz besonders gut darauf, wenn ich mich recht entsinne. Wie nimmt sie es auf? Kommt diese Geschichte ihrem… ihrem Lebensstil in die Quere?«
Ben hatte die boshaften Betonungen in der Sprechweise seines Vaters beinahe vergessen, die bedeutungsvollen Worte und rhetorischen Fragen, die allein dem Zweck dienten, das fragile Selbstwertgefühl seines Gegenübers zu untergraben. In Eddie Kernes Welt hatten Individuen keine Berechtigung. Familie bedeutete in seiner Welt bedingungslose Treue zu einer einzigen Überzeugung und einem einzigen Lebensentwurf zu seinem Lebensentwurf. Wie der Vater, so der Sohn, dachte Ben. Wie gründlich hatte er doch seine eigene Vaterrolle vermasselt!
»Wir haben noch keinen Termin für die Beerdigung«, teilte er seinem Vater mit. »Die Behörden haben den Leichnam noch nicht freigegeben. Ich habe ihn noch nicht einmal gesehen.«
»Woher zum Henker weißt du dann, dass es Santo ist?«
»Da sein Wagen vor Ort war, sein Ausweis im Auto lag und er seither noch nicht wieder nach Hause gekommen ist, können wir es wohl als gesichert betrachten, dass es sich um Santo handelt.«
»Du bist ja so ein Dreckskerl, Benesek! Von deinem eigenen Sohn so zu sprechen!«
»Was, bitte schön, erwartest du, soll ich sagen, wenn dir doch nichts, was ich sage, je recht wäre? Ich habe angerufen, um es dir persönlich mitzuteilen, weil du es sonst von der Polizei erfahren hättest, und ich dachte…«
»Und das willst du natürlich nicht, oder? Dass ich mich mit den Cops unterhalte. Dass ich ihnen was erzähle und sie mit gespitzten Ohren lauschen.«
»Wenn du meinst«, erwiderte Ben lahm. »Was ich eigentlich sagen wollte, war: Ich dachte, du hörst es lieber von mir als von der Polizei. Sie werden kommen, um mit euch zu reden, mit dir und auch mit Mum. Sie werden mit jedem reden, der Kontakt mit Santo hatte. Ich dachte, du wüsstest vielleicht gern, was sie auf deinem Grund und Boden verloren haben, wenn sie irgendwann auftauchen.«
»Ich hätte sofort gewusst, dass du dahintersteckst«, gab Eddie Kerne zurück.
»Ja. Ich schätze, das hättest du.« Und dann legte er auf, ohne sich zu verabschieden.
Er hatte die ganze Zeit über gestanden, aber jetzt ließ er sich in den Schreibtischstuhl sinken. Er fühlte, wie sich in seinem Innern ein enormer Druck aufstaute, so als wüchse in seiner Brust ein Tumor, der ihm den Atem abschnürte. Das Büro schien zu schrumpfen. Bald würde alle Luft verbraucht sein.
Er musste das alles hinter sich lassen. Wie immer, hätte sein Vater gesagt. Sein Vater ein Mann, der die Vergangenheit verfälschte, damit sie seinen momentanen Absichten zu dienen vermochte. Aber dieser Moment hier hatte keine Vorgeschichte. Diesen Moment allein, das Hier und Jetzt, galt es zu überstehen.
Er stand auf, verließ das Büro. Ging die Korridore entlang hin zum Geräteraum, wo er zuvor schon gewesen war und wohin er Detective Inspector Hannaford geführt hatte. Dieses Mal trat er jedoch nicht an die lange Schrankreihe, wo einmal Santos Kletterausrüstung gelagert hatte. Vielmehr ging er weiter in einen angrenzenden kleineren Raum und machte sich an einem Verschlag zu schaffen, der mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Der einzige Schlüssel dazu war in Bens Besitz, und jetzt benutzte er ihn. Als die Türen aufschwangen, schlug ihm der starke Geruch von altem Gummi entgegen. Es ist über zwanzig Jahre her, dachte er. Noch vor Kerras Geburt. Wahrscheinlich würde das Ding auseinanderfallen, sobald er es in die Hand nahm.
Aber das tat es nicht. Bevor er auch nur einen Gedanken an das Warum verschwendet hatte, steckte er in dem Anzug, von den Schultern bis zu den Knöcheln in Neopren gehüllt, und er zog den Reißverschluss im Rücken an einer Kordel zu. Ein ordentlicher Ruck, der Rest ging einfach. Keine Korrosion. Ben hatte seine Ausrüstung immer schon gepflegt.
Können wir jetzt endlich nach Hause gehen, hatten seine Kumpels immer gemeckert. Kerne, du Wichser! Wir frieren uns hier draußen deinetwegen noch den Arsch ab!
Aber er hatte darauf bestanden, noch am Strand seine Sachen mit Leitungswasser abzuspülen. Und wenn er nach Hause kam, tat er dort das Gleiche noch einmal. Die Surfausrüstung hatte ihn eine Menge Geld gekostet, und er wollte keine neue kaufen müssen, nur weil er nicht verhindert hatte, dass das Salzwasser die alte zerfraß. Also spülte er seinen Neoprenanzug immer sofort gründlich ab — die Schuhe, Handschuhe und Kapuze ebenfalls und zum Schluss das Board. Seine Freunde hatten gejohlt und ihn ein Weichei geschimpft, aber Ben hatte sich niemals beirren lassen.