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Nicht in diesem und nicht in irgendeinem anderen Punkt, dachte er jetzt. Seine eigene Entschlossenheit kam ihm inzwischen vor wie ein Fluch.

Das Board lehnte seitlich an der Wand. Er zog es hervor, nahm es in Augenschein. Keine Macken, die Oberfläche immer noch gewachst. Nach heutigen Standards eine echte Antiquität, aber noch immer vollkommen ausreichend für seine Zwecke was immer diese Zwecke sein mochten. Er wusste es selbst nicht genau. Er musste einfach raus aus dem Hotel. Er hob Schuhe, Handschuhe und Kapuze auf und klemmte sich das Surfbrett unter den Arm.

Vom Geräteraum öffnete sich eine Tür zur Terrasse, und von dort gelangte man zum immer noch leeren Swimmingpool. Eine Betontreppe führte von der gegenüberliegenden Seite hinauf zu der Stelle, von der aus sich ein Weg zum St. Mevan Beach hinabschlängelte. Eine Reihe Strandhütten war daran entlang in die Klippen gebaut worden, nicht die üblichen freistehenden Holzhäuschen, sondern ein zusammenhängender, lang gezogener Komplex, der aussah wie ein niedriges Stallgebäude mit schmalen blauen Türen. Ben folgte dem Weg, atmete gierig die kalte Seeluft ein und lauschte dem Rauschen der Wellen. Oberhalb der Strandhütten hielt er an, um die Neoprenkapuze überzuziehen; die Schuhe und Handschuhe wollte er sich erst unten am Strand überstreifen.

Er sah aufs Meer hinaus. Es war Flut, sodass die Riffe überspült waren. Es waren ebendiese Riffe, die die Wellen beständig machten. Aus der Entfernung schätzte er sie auf knapp zwei Meter. Sie brachen genau richtig im ablandigen Wind. Wäre es einigermaßen hell gewesen, und sei es nur in der Morgen- oder Abenddämmerung, hätte man die Bedingungen als gut bezeichnen können selbst zu dieser Jahreszeit, da das Wasser noch eiskalt war.

Aber niemand surfte bei Nacht. Es gab zu viele Tücken, angefangen bei den Riffen und der Kabbelung bis hin zu dem sich gelegentlich hierher verirrenden Hai. Doch es ging ihm weniger ums Surfen als vielmehr um das Erinnern, und auch wenn Ben sich nicht erinnern wollte, hatte das Telefonat mit seinem Vater ihn doch gezwungen, es zu tun. Entweder das oder er hätte im King-George-Hotel bleiben müssen, und das hätte er nicht ertragen.

Er stieg die Stufen zum Strand hinab. Der Pfad war hier unbeleuchtet, doch die Straßenlaternen oben auf der Anhöhe warfen ein bisschen Licht auf die Felsen und den Sand. Er suchte sich einen Weg zwischen Schieferplatten und Sandsteinbrocken hindurch Bruchstücke von der Klippe, die das Fundament der Anhöhe darstellte.

Endlich erreichte er den Sand. Dies war nicht der feine, weiche Sand einer Tropeninsel, sondern vielmehr über Jahrmillionen entstandener Kies, wo der Permafrost am Ende der Eiszeit geschmolzen war und träge Moränen scharfkantige Geröllbrocken hinterlassen hatten, die das Wasser nach und nach zu harten, groben Körnern zermahlen hatte. Im Sonnenlicht funkelten sie manchmal ein wenig, üblicherweise jedoch wirkten sie stumpf, waren von gräulich brauner Farbe und scharfkantig genug, um sich Hautabschürfungen einzuhandeln, wenn man nicht achtgab.

Zu seiner Rechten lag die Sea Pit, der Meerwasserpool, den die Flut mit frischem Wasser füllte und inzwischen fast vollständig bedeckte. Zu seiner Linken lag die Flussmündung des Cas und jenseits davon das, was vom Casvelyn Canal noch übrig war. Und vor ihm die See. Rastlos und fordernd. Sie zog ihn magisch an.

Er legte das Board im Sand ab und zog sich Schuhe und Handschuhe über. Einen kurzen Moment lang blieb er hocken, eine zusammengekauerte schwarze Gestalt, die Casvelyn den Rücken kehrte. Er betrachtete das phosphoreszierende Leuchten der Wellen. Als Jugendlicher war er häufig nachts am Strand gewesen, aber nicht zum Surfen. Wenn sie für den Tag genug vom Wellenreiten gehabt hatten, hatten sie einen Feuerring gelegt. Und wenn das Feuer heruntergebrannt war, hatten sie sich paarweise davongestohlen. Bei Ebbe lockten die großen Höhlen von Pengelly Cove. Dort hatten sie sich geliebt. Auf einer Decke oder auch nicht. Halb bekleidet oder nackt. Nüchtern, beschwipst oder volltrunken.

Sie war so viel jünger gewesen. Und sie hatte ihm gehört. Sie war alles gewesen, was er wollte. Das hatte sie gewusst, und dieses Wissen war zur Ursache aller Probleme geworden.

Er stand auf und ging mit dem Board unterm Arm auf das Wasser zu. Er hatte keine Halteleine dabei, aber das spielte keine Rolle. Wenn es davontrieb, trieb es eben davon. Das Board in seiner Nähe zu halten, wenn er herunterfiel, war derzeit wie so viele Dinge in seinem Leben ein Erfordernis, zu dem er keine Kraft aufbringen würde.

Seine Füße und Knöchel spürten den Kälteschock zuerst. Dann die Waden, Knie, Oberschenkel, der Rest seines Körpers. Es würde ein Weilchen dauern, bis seine Körpertemperatur das Wasser im Innern des Anzugs aufwärmte, und bis dahin gemahnte die Eiseskälte ihn daran, dass er lebte.

Als er tief genug ins Wasser gewatet war, legte er sich auf das Brett und paddelte hinaus zu dem Riff zu seiner Rechten, dorthin, wo die Wellen sich brachen. Die Gischt sprühte ihm ins Gesicht, und die Wellen spülten über ihn hinweg. Für einen Augenblick erwog er, einfach immer weiter zu paddeln, bis der Tag anbrach und er sich so weit von der Küste entfernt hatte, dass Cornwall nicht mehr als nur noch eine Erinnerung war. Doch er vermochte das Joch aus Liebe und Pflicht nicht abzustreifen. Also hielt er jenseits des Riffs inne und setzte sich rittlings auf sein Board. Zuerst saß er mit dem Rücken zum Strand und sah auf das endlose, wogende Meer hinaus. Dann drehte er das Brett und sah vor sich die Lichter von Casvelyn: die Reihe heller, weißer Laternen oben auf der Anhöhe, dann das orangefarbene Schimmern hinter den Vorhängen in den Häusern, wie Gaslichter im neunzehnten Jahrhundert oder die offenen Feuer früherer Zeitalter.

Die Wellen waren verführerisch, boten ihm einen hypnotischen Rhythmus, der ebenso tröstlich wie tückisch war. Wie die Rückkehr in den Mutterleib, dachte er. Man konnte sich auf dem Board ausstrecken, auf dem Meer schaukeln und schlafen, für immer. Aber Wellen brachen, sowie die Landmasse darunter zum Ufer hin anstieg. Dieses schiere Getöse von Wasser, das auf Wasser traf! Hier lauerte Gefahr ebenso wie Verführung. Wollte man sich nicht der Macht der Wellen unterwerfen, musste man das Schicksal in die eigenen Hände nehmen.

Er fragte sich, ob er nach all diesen Jahren noch den richtigen Moment erkennen würde: das Zusammentreffen von Form, Kraft und Krümmung, das dem Surfer bedeutete, dass es Zeit war aufzuspringen. Aber manche Dinge gingen einem in Fleisch und Blut über, und er stellte fest, eine Welle zu nehmen gehörte dazu. Wahrnehmung und Erfahrung verbanden sich zu Fertigkeit, und die hatte die Zeit ihm nicht nehmen können.

Eine Welle rollte heran, und er hob sich mit ihr: Eben noch paddelnd, richtete er sich auf. Er verharrte für eine Sekunde auf dem Wellenkamm. Dann pflügte er die Vorderseite hinab, nahm Fahrt auf, und die Erinnerung steuerte seine Muskeln wie ein Autopilot. Er erreichte die Barrel den Hohlraum unter dem Wellenkamm, und sie war  clean. Eine spiegelglatte Oberfläche. Green Room, Kumpel!, hätten sie früher gebrüllt. Scheiße! Du bist im Green Room, Kerne!

Ben ritt die Welle, bis sie sich im weißen Flachwasser verlor, dann sprang er ab und stand wieder bis zu den Oberschenkeln im Wasser. Er bekam das Board zu fassen, noch ehe es davontreiben konnte, hielt inne und spürte, wie die kleinen Wellen diesseits des Riffs sich in seinem Rücken brachen. Sein Atem kam stoßweise, und er rührte sich nicht, bis sein rasender Herzschlag sich wieder beruhigt hatte.

Dann watete er zum Strand, das Meerwasser glitt an ihm hinab wie ein abgestreiftes Cape, und er ging auf die Treppe zu.

Eine Gestalt — eine mitternächtliche Silhouette kam ihm entgegen.

Kerra hatte ihn das Hotel verlassen sehen. Zuerst hatte sie nicht gewusst, dass es sich um ihren Vater handelte. Tatsächlich hatte sie einen verrückten Moment lang geglaubt, es müsste Santo sein, der dort unten die Terrasse überquerte und die Treppe zum St. Mevan Beach nahm, um heimlich mitten in der Nacht surfen zu gehen. Sie hatte ihn von oben her beobachtet, hatte nur die schwarz gekleidete Gestalt gesehen und gewusst, dass diese Gestalt aus dem Hotel gekommen war… Sie hatte gar keinen anderen Schluss ziehen können. Es war alles bloß eine Verwechslung! Erleichterung durchflutete ihre Adern. Eine schreckliche, makabere, grauenhafte Verwechslung. Man hatte irgendjemand anderen tot am Fuß der Klippe in Polcare Cove aufgefunden, nicht ihren Bruder.