»Ein Skapulier«, erklärte sie.
»Skapu-was?«
»Ein Skapulier.«
»Und wofür steht das "M"?«
»Für Maria.«
»Maria wer?«, verlangte er zu wissen.
Tammy seufzte. »Ach, Granddad.«
Das beruhigte ihn nicht gerade. Er steckte sich das Skapulier in die Tasche und befahl ihr, ihren Hintern nach draußen ins Auto zu bewegen.
Als er zu ihr in den Wagen stieg, wusste er, die Zeit war reif, also fragte er: »Ist es die Angst?«
»Wovor?«
»Du weißt genau, was ich meine. Vor Männern«, sagte er. »Hat deine Mutter… Du weißt schon. Du weißt verdammt gut, worüber ich rede.«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Hat deine Mutter dir erklärt…?«
Die Mutter seiner Frau hatte es nicht getan. Die arme Dot hatte gar nichts gewusst. Sie war nicht nur als Jungfrau in sein Bett gekommen, sondern so ahnungslos wie ein neugeborenes Lamm. Und er hatte die Sache vermasselt, weil auch er unerfahren und schrecklich nervös gewesen war. Für sie aber hatte es lediglich nach Ungeduld ausgesehen, sodass sie schließlich vor Angst in Tränen ausgebrochen war. Aber waren Mädchen heutzutage nicht völlig anders? Die wussten doch schon über alles Bescheid, ehe sie zehn waren.
Andererseits würden, was Tammy anging, Unwissenheit und Angst eine Menge erklären. Denn sie waren möglicherweise der Grund dafür, wie das Mädchen momentan lebte, nämlich ganz in sich selbst zurückgezogen.
»Hat deine Mutter mit dir darüber gesprochen, Kind?«, fragte er.
»Worüber?«
»Blümchen und Bienchen. Hunde und Welpen. Hat deine Mutter dir das erklärt?«
»O Granddad«, sagte sie.
»Hör auf mit deinem "O Granddad", und sag mir die Wahrheit. Denn wenn sie's nicht getan hat…« Arme Dot, dachte er. Arme, ahnungslose Dot. Als ältestes Mädchen in einer Familie mit lauter Töchtern hatte sie außer vielleicht im Museum nie zuvor einen nackten Mann gesehen, und so hatte die dumme Gans doch tatsächlich geglaubt, die männlichen Genitalien wären wie Feigenblätter geformt… Gott, was für ein Albtraum diese Hochzeitsnacht gewesen war, und was er daraus gelernt hatte, war, dass es für alle Beteiligten nur von Nachteil war, bis nach der Hochzeit zu warten… Wenn sie es vorher getan hätten, hätte Dot wenigstens gewusst, ob sie überhaupt heiraten wollte… Nur hätte sie in einem solchen Fall natürlich erst recht auf einer Heirat bestanden. Also ganz egal wie man es betrachtete, er hatte in der Falle gesessen. So wie er immer in der Falle saß: durch Liebe, durch Pflicht und jetzt wegen Tammy.
»Also, was soll das heißen: "O Granddad"?«, wollte er wissen. »Dass du Bescheid weißt? Oder ist es dir peinlich? Was ist es?«
Sie ließ den Kopf hängen. Er dachte, sie würde vielleicht anfangen zu weinen, und weil er das nicht wollte, startete er den Motor. Sie rumpelten den Hügel hinauf und vom Gelände des Caravanparks. Er war sich inzwischen sicher, dass sie ihm nichts erzählen würde. Sie wollte es ihm schwer machen. Zur Hölle mit ihr! Sie war einfach ein sturköpckfiges kleines Ding. Er konnte sich allerdings nicht vorstellen, woher sie das hatte. Aber dass sie ihre Eltern damit in die Verzweiflung getrieben hatte, war nun wirklich nicht sonderlich erstaunlich.
Nun, er hatte wohl keine andere Wahl, als sie weiter zu bearbeiten, wenn sie nicht antworten wollte. Also zog er, während sie sich auf den Weg nach Casvelyn machten, alle Register. »Es ist die natürliche Ordnung der Dinge«, erklärte er. »Mann und Frau vereint. Alles andere ist unnatürlich, und ich meine alles andere, kapiert? Es ist nichts, wovor man sich fürchten müsste, denn wir sind unterschiedlich gebaut, und diese unterschiedlichen Teile sind dafür gedacht, vereint zu werden. Der Mann liegt oben, die Frau unten. Mann und Frau vereinen ihre Körperteile, denn so soll es eben sein. Er gleitet hinein, und sie zappeln ein bisschen herum, und wenn sie fertig sind, schlafen sie ein. Manchmal kommt ein Baby dabei heraus, manchmal nicht. Aber so soll es sein, und wenn der Mann auch nur einen Funken Verstand hat, ist es eine schöne Sache, an der sie beide Spaß haben.« Da. Er hatte es gesagt. Aber er wollte einen Aspekt wiederholen, um sicherzustellen, dass sie es verstanden hatte. »Alles andere«, betonte er mit einem Trommeln auf dem Lenkrad, »ist wider die natürliche Ordnung, und wir sollen uns natürlich verhalten. Natürlich. Wie die Natur. Und was es in der Natur niemals gibt, ist…«
»Ich habe mit Gott gesprochen«, unterbrach Tammy ihn.
Also, das ist jetzt wirklich ein Gesprächskiller, dachte Selevan. Es war einfach so aus heiterem Himmel gekommen, dabei war er doch so bemüht gewesen, dem Mädchen etwas wirklich Wichtiges zu vermitteln. »Ach ja?«, fragte er genervt. »Und was hat Gott so erzählt? Schön, dass er Zeit für dich hatte. Für mich hatte der Drecksack nie Zeit.«
»Ich hab versucht zuzuhören.« Tammy klang bekümmert. »Ich hab wirklich versucht, seiner Stimme zu lauschen.«
»Seiner Stimme? Gottes Stimme? Und woher kam die? Aus dem Ginster oder so?«
»Gottes Stimme kommt aus dem Innern«, erklärte Tammy und legte eine lose Faust an ihre magere Brust. »Ich habe versucht, die Stimme in meinem Innern zu verstehen. Sie ist leise. Es ist die Stimme dessen, was recht ist. Du erkennst es, wenn du sie hörst, Granddad.«
»Und du hörst sie oft, ja?«
»Wenn ich ganz ruhig werde, dann ja. Aber momentan kann ich es nicht.«
»Du bist Tag und Nacht ruhig, das seh ich doch.«
»Aber nicht in meinem Innern.«
»Wie kommt das?« Er schaute zu ihr hinüber. Ihr Blick war auf den verregneten Morgen draußen gerichtet, die tröpfelnden Hecken, an denen der Wagen vorbeikam, eine Elster, die gen Himmel zeterte.
»Mein Kopf ist voll Geplapper«, antwortete Tammy. »Und wenn es nicht still ist in meinem Kopf, kann ich Gott nicht hören.«
Geplapper?, dachte er. Wovon in Teufels Namen redete dieses Kind? Gerade hatte er noch gedacht, er hätte sie auf Spur gebracht, und jetzt war er wieder vollkommen ratlos. »Was hast du denn da oben drin?«, fragte er und tippte ihr an die Schläfe. »Kobolde und Unholde?«
»Mach dich nicht darüber lustig«, protestierte sie. »Ich versuche gerade, dir zu erklären… Aber es gibt nichts und niemanden, den ich fragen könnte, verstehst du? Also frage ich dich, denn soweit ich sehe, ist das meine einzige Möglichkeit. Ich schätze, ich will dich um Hilfe bitten, Granddad.«
Na endlich!, dachte er. Endlich kamen sie zum Kern der Sache. Das war der Moment, auf den ihre Eltern gehofft hatten. Die Zeit bei ihrem Großvater machte sich zu guter Letzt bezahlt. Er wartete, gab einen Brummlaut von sich, um ihr zu signalisieren, dass er gewillt war, ihr zuzuhören. Die Sekunden verrannen, während sie sich Casvelyn näherten. Doch sie sagte nichts mehr, bis sie in die Stadt kamen.
Und dann machte sie es kurz. Er hatte den Wagen bereits am Straßenrand vor dem Clean-Barrel-Surfshop abgestellt, als sie endlich den Mund aufmachte. »Wenn ich etwas weiß…«, begann sie, den Blick starr auf die Ladentür gerichtet. »Und wenn das, was ich weiß, jemanden in Schwierigkeiten bringen könnte… Was mache ich dann, Granddad? Das ist es, was ich Gott gefragt habe, aber er hat nicht geantwortet. Was soll ich nur tun? Ich könnte weiterfragen, denn wenn jemandem, den man gernhat, etwas Schlimmes passiert, dann scheint es…«
»Der Kerne-Junge«, unterbrach er. »Weißt du etwas über diese Sache, Tammy? Sieh mich an, Kind, nicht aus dem Fenster!«
Sie wandte sich zu ihm um. Sie war wesentlich verstörter, als ihm bis jetzt klar gewesen war. Also konnte es nur eine Antwort geben, und trotz der Komplikationen, die diese Antwort für sein eigenes Leben bedeuten könnte, schuldete er sie seiner Enkelin.