»Wenn du etwas weißt, musst du es der Polizei sagen. Und zwar noch heute.«
12
Sie war eine hervorragende Dartspielerin. Das hatte Lynley am Abend zuvor herausgefunden und es unter den mageren Informationen abgespeichert, die er bislang über Daidre Trahair hatte sammeln können. Sie hatte an der Rückseite ihrer Wohnzimmertür eine Dartscheibe aufgehängt, was ihm bislang entgangen war, weil sie diese Tür immerzu offen stehen ließ, statt sie gegen den eisigen Wind zu schließen, der aus der Diele hereinwehte, wenn jemand das Cottage betrat.
Er hätte wissen müssen, dass er in Schwierigkeiten steckte, als sie mit einem Maßband eine Entfernung von exakt 2,37 Metern bis zur geschlossenen Tür ermittelt und an der entsprechenden Stelle einen Schürhaken auf den Boden gelegt hatte, den sie Oche nannte. »Okeeeh?«, hatte er verwirrt wiederholt, und sie hatte erklärt: »Das Oche ist die Wurflinie, hinter der die Spieler stehen, Thomas.« Da schwante ihm zum ersten Mal, dass er sich womöglich ein bisschen zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Aber wie schwierig kann es schon sein?, hatte er sich beruhigt und war wie das Lamm zur Schlachtbank gegangen, als er einem Spiel namens 501 zustimmte, von dem er nicht die geringste Ahnung hatte.
»Gibt es dafür irgendwelche Regeln?«, hatte er sich erkundigt.
Sie hatte ihn mit einem missfälligen Blick traktiert. »Natürlich gibt es Regeln. Es ist ein Spiel, Thomas.« Und sie hatte es ihm erklärt. Sie begann mit der Dartscheibe, und er verlor fast augenblicklich den Faden, als sie von Treble- und Double-Ringen sprach und ausführte, was es für seinen Punktestand bedeutete, wenn sein Pfeil dort auftraf. Er hatte sein Leben lang angenommen, wenn man in der Lage sei, das Bull's Eye zu identifizieren, wüsste man genug über Darts aber schon nach wenigen Augenblicken war er hoffnungslos verwirrt.
Es sei ganz einfach, versicherte sie. »Wir beginnen beide mit einem Punktestand von jeweils fünfhunderteins. Ziel ist es, diesen Punktestand auf null zu reduzieren. Wir werfen je drei Darts. Ein Bull's Eye zählt fünfzig Punkte, ein Bull fünfundzwanzig, und alles im Double- oder Treble-Ring bringt das Doppelte beziehungsweise Dreifache der dem Segment zugewiesenen Punktzahl. So weit klar?«
Er nickte. Er hatte nur eine nebulöse Vorstellung, wovon sie eigentlich sprach, aber er war überzeugt: Selbstvertrauen war der Schlüssel zum Erfolg.
»Gut. Wichtig ist noch, dass der letzte Wurf in einem Double oder im Bull's Eye landen muss. Und wenn Ihre Punktzahl auf eins oder unter null geht, ist die Runde ungültig, und der andere Spieler ist an der Reihe. Kommen Sie noch mit?«
Er nickte wieder. Inzwischen war er zwar noch verwirrter, aber wie schwierig konnte es denn sein, eine Dartscheibe aus weniger als drei Metern Entfernung zu treffen? Außerdem war es ja nur ein Spiel, und sein Ego war stabil genug, um unbeschadet zu bleiben, sollte sie gewinnen. Denn dem ersten Spiel konnte ja ein weiteres folgen. Sie konnten über drei Sätze spielen. Oder über mehrere Gewinnsätze. Es spielte keine Rolle. Es war doch nur ein abendlicher Zeitvertreib, oder etwa nicht?
Sie gewann jede einzelne Partie. Sie hätten die ganze Nacht durchspielen können, und Daidre hätte wahrscheinlich immer weiter gewonnen. Und diese kleine Teufelin denn als solche betrachtete er sie inzwischen entpuppte sich nicht nur als Turnierspielerin, sondern ebenso als die Art Frau, die nicht daran glaubte, dass das Ego eines Mannes hin und wieder den Balsam der unangefochtenen Überlegenheit über das andere Geschlecht verdiente.
Sie zeigte jedoch so viel Anstand, wenigstens ein bisschen verlegen zu sein. »Oje«, sagte sie. »Ach du meine Güte. Es ist einfach… Ich lasse grundsätzlich niemanden absichtlich gewinnen. Das kommt mir immer so unehrlich vor.«
»Sie sind… sagenhaft«, erwiderte er. »Mir ist schon ganz schwindelig.«
»Nun ja. Ich hatte Ihnen verschwiegen, dass ich ziemlich häufig spiele. Aber ich zahle den Preis dafür, dass ich Ihnen die Wahrheit verheimlicht habe: Ich helfe Ihnen mit dem Abwasch.«
Sie hielt Wort, und in ungetrübter Eintracht brachten sie die Küche in Ordnung. Er spülte, sie trocknete ab. Dann hieß sie ihn, den Herd zu putzen. »Das ist nur fair«, frotzelte sie, fegte dann aber selbst den Boden und scheuerte die Spüle. Er stellte fest, dass er sich in ihrer Gesellschaft wohlfühlte, und das hatte zur Folge, dass seine Aufgabe ihm Unbehagen verursachte.
Er erfüllte sie trotzdem. Denn im Grunde war nur eine Sache wirklich wichtig: Er war Polizist, und es war jemand durch Mord zu Tode gekommen. Daidre hatte eine ermittelnde Beamtin angelogen, und ganz gleich wie sehr er diesen Abend genoss, er hatte für Detective Inckspector Hannaford einen Job zu erledigen, und er hatte die Absicht, dies auch zu tun.
Er nahm seine Nachforschungen gleich am nächsten Morgen in seinem Zimmer im Salthouse Inn wieder auf und kam erstaunlich weit. Mit ein paar unkomplizierten Telefonaten fand er heraus, dass tatsächlich eine Frau mit Namen Daidre Trahair als Tierärztin im Zoo von Bristol arbeitete. Als er fragte, ob er sie denn sprechen könne, teilte man ihm mit, sie habe Sonderurlaub bekommen, um sich einer dringenden Familienangelegenheit in Cornwall anzunehmen.
Diese Information fand er nicht sonderlich eigenartig. Viele täuschten Familienprobleme vor, wenn sie in Wahrheit nur ein paar Tage weg wollten, um Abstand von einem stressigen Job zu gewinnen. Daraus konnte man ihr keinen Vorwurf machen.
Auch die Geschichte von ihrem adoptierten chinesischen Bruder hielt stand. Lok Trahair studierte in Oxford. Daidre selbst hatte einen Abschluss in Biologie von der Universität Glasgow, wo sie anschließend am Royal Veterinary College weiterstudiert und ihren Doktor gemacht hatte. So weit also alles in Ordnung. Sie mochte Geheimnisse haben, die sie vor DI Hannaford zu verbergen suchte, aber die betrafen weder ihre Identität noch die ihres Bruders.
Er forschte weiter bis in ihre Schulzeit zurück, und da stieß er auf die erste Ungereimtheit. Daidre Trahair hatte eine weiterführende Gesamtschule in Falmouth besucht, aber für die Zeit davor gab es keinerlei Belege. Ihr Name tauchte in keinem Schülerverzeichnis in Falmouth auf, weder in den staatlichen noch den privaten Schulen, Internaten oder Klosterschulen… Nichts. Entweder hatte sie diese Zeit nicht in Falmouth verbracht, oder sie war aus irgendeinem Grund anderswohin geschickt oder zu Hause unterrichtet worden.
Aber sie hätte es doch sicher erwähnt, wenn sie daheim unterrichtet worden wäre, hatte sie ihm doch auch erzählt, dass sie zu Hause zur Welt gekommen war. Wäre dies nicht eine naheliegende Fortführung gewesen?
Er war sich nicht sicher. Er war sich auch nicht sicher, was er sonst noch tun konnte. Er überdachte seine Möglichkeiten, als ein Klopfen an der Tür ihn aus seinen Gedanken riss. Siobhan Rourke brachte ihm ein Päckchen. Es sei gerade mit der Post gekommen, sagte sie.
Er bedankte sich, und als er wieder allein war, öffnete er es und zog seine Brieftasche daraus hervor. Er klappte sie auf ein Reflex, aber gleichzeitig ein bisschen mehr als das. Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, doch mit einem Mal hatte er seine Identität zurück: Führerschein zu einem Quadrat gefaltet, Bankkarte, Kreditkarten, ein Foto von Helen.
Er nahm es in die Hand. Es war eine Aufnahme, die an Weihnachten entstanden war, keine zwei Monate vor ihrem Tod. Es waren hektische Feiertage gewesen, keine Zeit, um ihre oder seine Familie zu besuchen, weil er bis über beide Ohren in Ermittlungen gesteckt hatte. »Mach dir keine Gedanken, es wird weitere Weihnachtsfeste geben, Darling«, hatte sie gesagt. Das Bild zeigte sie am Frühstückstisch; das Kinn auf die Hand gelegt, sah sie ihn lächelnd an, ihr Haar noch ungekämmt, das Gesicht ungeschminkt so wie er sie liebte.
Helen, dachte er.
Er musste sich zwingen, in die Gegenwart zurückzukehren. Behutsam steckte er das Foto zurück an seinen Platz in der Brieftasche. Diese legte er neben das Telefon auf den Nachttisch. Schweigend saß er da, hörte nichts als sein eigenes Atemgeräusch. Er dachte an ihren Namen. Er dachte an ihr Haar. Er dachte an nichts.