Schließlich nahm er seine Arbeit wieder auf. Er wägte die Alternativen ab. Weitere Nachforschungen über Daidre Trahair würden notwendig sein, aber er wollte nicht derjenige sein, der sie anstellte, ganz gleich ob er einer Kollegin Loyalität schuldete oder nicht. Denn er war doch gar kein Polizist — jedenfalls hier nicht und überhaupt nicht mehr. Und es gab andere.
Doch ehe er sich daran hindern konnte — dabei wäre es so einfach gewesen, nahm er den Hörer wieder zur Hand und wählte eine Nummer, die ihm vertrauter war als seine eigene. Und eine Stimme, die vertraut war wie die eines Familienmitgliedes, meldete sich am anderen Ende der Leitung: Dorothea Harriman, Abteilungssekretärin bei New Scotland Yard.
Zuerst war er nicht sicher, ob er sprechen konnte, aber schließlich brachte er ein Wort heraus: »Dee.«
Sie erkannte ihn sofort. Mit gesenkter Stimme sagte sie: »Detective Superintendent… Detective Inspector… Sir?«
»Einfach Thomas«, erwiderte er. »Einfach nur Thomas, Dee.«
»Um Himmels willen, Sir, kommt nicht infrage!«, protestierte sie. Dee Harriman, die niemals irgendjemanden anders ansprach als mit seinem vollständigen Rang. »Wie geht es Ihnen, Detective Superintendent Lynley?«
»Es geht mir gut, Dee. Ist Barbara in der Nähe?«
»Detective Sergeant Havers?«, fragte sie. Derart nachzufragen, sah Dee überhaupt nicht ähnlich. Lynley überlegte, warum sie es wohl getan hatte.
»Nein. Sie ist nicht hier, Detective Superintendent. Aber Detective Sergeant Nkata ist im Büro. Und Detective Inspector Stewart. Und Detective Inspec…«
Lynley unterbrach sie: »Ich versuch's auf Barbaras Handy. Und, Dee…?«
»Detective Superintendent?«
»Sagen Sie niemandem, dass ich angerufen habe, in Ordnung?«
»Aber… Sind Sie…«
»Bitte.«
»Ja. Ja. Natürlich. Aber wir hoffen… Nicht nur ich… Ich spreche für alle hier, das weiß ich, wenn ich sage…«
»Danke.« Er legte auf. Er überlegte, ob er Barbara Havers, seine langjährige Partnerin und mitunter streitbare Freundin, wirklich anrufen sollte. Sie würde ihm bereitwillig ihre Hilfe anbieten, aber es wäre allzu bereitwillig. Selbst wenn sie mitten in einem Fall steckte, würde sie ihm trotzdem helfen wollen und die Konsequenzen tragen, ohne ein Wort darüber zu verlieren.
Und noch eine andere Gewissheit war in ihm aufgestiegen, als er Dorothea Harrimans Stimme gehört hatte: Es war offensichtlich noch viel zu früh. Und womöglich war die Wunde zu tief, um überhaupt je zu heilen.
Doch ein Junge war tot, und Lynley war, wer er war. Er griff erneut zum Telefon.
»Ja?« Das war typisch Havers. Sie sprach laut, und wenn er die Hintergrundgeräusche richtig deutete, steckte sie mit der Höllenmaschine, die sie ihr Auto nannte, irgendwo im Straßenverkehr.
Er atmete ein, immer noch unsicher.
»Hey«, blaffte sie. »Ist da jemand? Ich kann Sie nicht hören. Hören Sie mich?«
»Ja. Ich kann Sie hören. Ich bin da an etwas dran… Können Sie mir helfen, Barbara?«
Ein langes Schweigen. Er hörte ihr Radio und den vorüberrauschenden Verkehr. Offenbar war sie so klug gewesen, auf dem Seitenstreifen zu halten, um zu telefonieren. Aber sie sagte immer noch nichts.
»Barbara?«
»Schießen Sie los, Sir.«
LiquidEarth befand sich am Binner Down inmitten einer Ansammlung kleiner Betriebe auf dem Gelände eines vor langer Zeit stillgelegten Air-Force-Flugplatzes ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg, das nach all den Jahrzehnten nur noch aus verfallenen Gebäuden, tief gefurchten Wegen und Dornengestrüpp bestand. Es wirkte wie eine Müllkippe. Zerbrochene Hummerfallen und ausrangierte Fischernetze lagen neben Hügeln aus Betonbrocken, Altreifen und schimmelnden Möbeln um alte Gastanks herum, ausgemusterte Toiletten und Waschbecken dienten dem wilden Efeu als Kletterhilfen. Matratzen, schwarze Müllsäcke, die mit Gott weiß was prall gefüllt waren, dreibeinige Stühle, zersplitterte Türen und alte Fensterrahmen. Der perfekte Ort, um eine Leiche auf Jahrzehnte verschwinden zu lassen, schoss es Bea Hannaford durch den Kopf.
Die Ausdünstungen dieses Ortes drangen selbst durch die geschlossenen Türen und Fenster in den Wagen ein: Feuer und Kuhmist von der Milchviehwirtschaft am Rande des Plateaus. Und um die allgegenwärtige Abscheulichkeit perfekt zu machen, hatten sich in den Kratern des Asphalts Pfützen gebildet, die mit einer Ölschicht überzogen waren.
Sie hatte Constable McNulty als Navigator und Notizenschreiber mitgebracht. Seine Anmerkungen in Santo Kernes Zimmer am Vortag hatten sie hoffen lassen, er könne nützlicher sein als befürchtet, vor allem wenn es um das Thema Surfen ging, und als langjähriger Einwohner von Casvelyn kannte er sich überdies hier aus.
Sie waren auf dem Weg hierher an der Kaianlage vorbeigekommen, die das nordöstliche Ufer des Casvelyn Canal bildete. Über die Arundel-Verbindung waren sie zum Binner Down gelangt, von wo aus schließlich ein unebener Pfad vorbei an einem rußverschmierten Farmhaus zu dem einstigen Flugfeld führte. Jenseits davon stand in der Ferne ein verfallenes Haus, eine Bruchbude, die offenkundig einer Reihe von Surfern als Behausung gedient hatte. McNulty schien es gelassen zu nehmen. Was sollte man schon erwarten?, sagte sein Ausdruck.
Bea stellte bald fest, dass sie froh sein konnte, ihn mitgenommen zu haben, denn keiner der Betriebe auf dem einstigen Flughafengelände war über eine Hausnummer oder Ähnliches kenntlich gemacht. Es handelte sich um beinah fensterlose Betongebäude mit Dächern aus verzinktem Metall, von denen Efeu herabrankte. Rissige Betonrampen führten zu schweren Stahltoren hinauf.
McNulty dirigierte Bea einen schmalen Weg entlang zum nördlichen Ende des Flugplatzes. Nach etwa dreihundert Metern, die ihr fast das Kreuz brachen, verkündete er schließlich: »Wir sind da, Chef.« Er zeigte auf eine von drei Hütten, die, so behauptete er, einmal Marinehelferinnen beherbergt hatten kaum zu glauben, dachte Bea. Aber es waren harte Zeiten gewesen. Verglichen mit einem Leben zwischen den zerbombten Trümmern Londons oder Coventrys war es ihnen hier wahrscheinlich wie im Paradies vorgekommen.
Bea war ausgestiegen und reckte sich, um ihre in Mitleidenschaft gezogene Wirbelsäule zu lockern, als McNulty sie darauf aufmerksam machte, wie viel näher sie hier dem verfallenen Surferhaus waren. Er nannte es "Binner Down House", und es stand genau gegenüber am anderen Ende des Plateaus. Praktisch für die Surfer, bemerkte er. Wenn ihre Bretter reparaturbedürftig waren, konnten sie einfach hier herüberkommen und sie Lew Angarrack vorbeibringen.
Sie betraten LiquidEarth durch eine Tür, die mit nicht weniger als vier Schlössern gesichert war. Man gelangte direkt in einen kleinen Ausstellungsraum, wo an zwei Wänden in schmucklosen Gestellen Longboards und Shortboards mit der Nase nach oben standen. Eine dritte Wand war mit Postern behängt Wellen so groß wie Kreuzfahrtschiffe, während entlang der vierten Wand eine Ladentheke stand. Dahinter war allerlei Zubehör ausgestellt: Schutzhüllen für Surfbretter, Leinen und Finnen. Neoprenanzüge gab es nicht. Ebenso wenig wie T-Shirts mit Designs, die von Santo Kerne stammten.
Beißender Dampf, der in den Augen brannte, hing in der Luft. Er schien aus einem angrenzenden Raum herüberzuwabern, wo ein Mann in Overall mit einem langen grauen Pferdeschwanz und einer großen Brille eine zähflüssige Substanz aus einem Eimer über ein Surfbrett goss, das quer über zwei Holzböcken lag.
Der Mann arbeitete langsam, was an der Art seiner Tätigkeit liegen mochte, vielleicht aber auch an einer Gewohnheit, seinem Alter oder an einer Erkrankung. Er zitterte, stellte Bea fest. Parkinson, Alkohol oder was auch immer.