Tammy fuhr herum. »Grandpa! Hast du meine Nachricht nicht bekommen?«
»Ich war noch nicht zu Hause«, erklärte Selevan.
»Oh. Ich wollte… Will und ich hatten vor, nach Feierabend noch einen Kaffee trinken zu gehen.«
»Ach, wirklich?« Selevan war erfreut. Vielleicht hatte er sich ja doch getäuscht, was Tammys Einstellung zu dem jungen Mann betraf.
»Er fährt mich anschließend nach Hause.« Dann runzelte sie die Stirn, als ihr aufging, dass es noch viel zu früh war, um von ihrem Großvater abgeholt zu werden. Sie sah auf die Uhr, die locker um ihr dürres Handgelenk schlackerte.
»Ich komme gerade vom Salthouse Inn«, erklärte Selevan. »Draußen in Polcare Cove hat es einen Unfall gegeben.«
»Geht es dir gut?«, fragte sie. »Du hast dich doch nicht verletzt?« Sie klang besorgt, und das freute Selevan. Tammy liebte ihren alten Großvater. Er war streng mit ihr, aber das nahm sie ihm nicht übel.
»Hatte nichts mit mir zu tun«, stellte er klar, und als er fortfuhr, ließ er sie nicht aus den Augen: »Es war Santo Kerne.«
»Santo? Was ist mit ihm?«
Hatte ihre Stimme sich gehoben? Hörte er Panik? Ein Sich-Wappnen gegen schlechte Neuigkeiten? Selevan hätte das gerne geglaubt, aber er brachte ihren Tonfall nicht in Einklang mit dem Blick, den sie mit Will Mendick tauschte.
»Soweit ich weiß, ist er von der Klippe gestürzt«, sagte er. »Unten in Polcare Cove. Dr. Trahair kam mit irgend so einem Wanderer in den Pub, um die Polizei zu rufen. Dieser Kerl der Wanderer hat den Jungen gefunden.«
»Geht es ihm gut?«, erkundigte sich Will Mendick, und im selben Moment fragte Tammy: »Aber Santo ist nichts passiert, oder?«
Das gefiel Selevan außerordentlich: die überstürzte Art, wie Tammy die Worte hervorbrachte und was das über ihre Gefühle aussagte auch wenn man kaum einen Kerl finden konnte, der die Zuneigung eines jungen Mädchens weniger verdiente als Santo Kerne. Wenn denn Zuneigung bestand, war das ein gutes Zeichen, und aus genau diesem Grund hatte Selevan Penrule Santo Kerne in jüngster Zeit Zutritt zum Gelände von Sea Dreams gewährt. Er hatte ihm die Erlaubnis erteilt, die Abkürzung zu den Klippen und zum Meer zu nehmen; und wer mochte schon wissen, was daraufhin in Tammys Herz gedieh? Und das war doch das Ziel gewesen, oder? Dass Tammy gedieh und Ablenkung fand.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Selevan. »Ich weiß nur, dass Dr. Trahair reingekommen ist und zu Brian vom Salthouse Inn gesagt hat, dass Santo Kerne unten auf den Felsen in Polcare Cove liegt. Mehr weiß ich nicht.«
»Das klingt nicht gut«, meinte Will Mendick.
»War er draußen zum Surfen, Grandpa?«, fragte Tammy. Aber es war nicht ihr Großvater, den sie bei der Frage ansah. Ihr Blick war auf Will gerichtet.
Das bewog Selevan, den jungen Mann ein wenig genauer in Augenschein zu nehmen. Will atmete ein bisschen komisch, stellte er fest, wie ein Sprinter, aber sein Gesicht war bleich geworden. Von Natur aus hatte er eine frische Farbe, darum fiel es auf, wenn ihm das Blut aus den Wangen wich.
»Keine Ahnung, was er dort getrieben hat«, gab Selevan zurück. »Aber fest steht: Irgendetwas ist ihm passiert. Und es sieht schlimm aus.«
»Wieso?«, fragte Will.
»Weil sie den Jungen kaum allein dort auf den Felsen hätten liegen lassen, wenn er nur verletzt gewesen wäre und nicht…« Er hob die Schultern.
»Doch nicht etwa tot?«, fragte Tammy leise.
»Tot?«, wiederholte Will.
»Du gehst jetzt besser, Will«, fuhr Tammy herum.
»Aber wie soll ich…«
»Dir fällt schon was ein. Los jetzt. Wir gehen ein andermal Kaffee trinken.«
Das war anscheinend alles, was er hören wollte. Will nickte Selevan zu und wandte sich zur Tür. Im Vorbeigehen berührte er Tammy an der Schulter. »Danke, Tammy«, murmelte er noch. »Ich ruf dich an.«
Selevan versuchte, das als gutes Zeichen zu werten.
Das Tageslicht schwand rasch, als Detective Inspector Bea Hannaford in Polcare Cove eintraf. Als ihr Handy geklingelt hatte, war sie gerade dabei gewesen, für ihren Sohn ein Paar Fußballschuhe zu erwerben, und hatte daraufhin den Kauf schnellstmöglich abgewickelt, ohne Pete Gelegenheit zu geben, jedes weitere verfügbare Paar anzuprobieren, wie er es sonst üblicherweise tat. Sie hatte ihm angedroht: »Entweder wir kaufen sie jetzt, oder du kommst ein andermal mit deinem Vater wieder.« Das hatte gewirkt. Sein Vater hätte ihm das preiswerteste Paar aufgezwungen, und zwar ohne auch nur die Spur einer Debatte zuzulassen.
Eilig hatten sie das Schuhgeschäft verlassen und waren durch den Regen zum Auto gehastet. Unterwegs hatte sie Ray angerufen. Er war heute Abend zwar nicht mit Pete an der Reihe, aber Ray war flexibel. Er war selbst Polizist und wusste, welche Anforderungen dieser Job stellte. Er werde sie in Polcare Cove treffen, hatte er vorgeschlagen. »Ist einer gesprungen?«, fragte er.
»Weiß ich noch nicht«, antwortete sie.
In diesem Teil der Welt waren Leichen am Fuß der Klippen leider keine Seltenheit. Dummköpfe wählten sich bröckelige Steilwände zum Klettern, andere traten zu nah an den Rand und stürzten, und wieder andere sprangen. Bei Flut kam es vor, dass die Leichen niemals gefunden wurden. Bei Ebbe hatte die Polizei wenigstens die Chance herauszufinden, wie sie dort unten gelandet waren.
»Da ist bestimmt alles blutüberströmt«, plapperte Pete aufgeregt. »Wahrscheinlich ist der Kopf aufgeplatzt wie ein faules Ei, und sein Hirn und die Gedärme sind überall verteilt.«
»Peter!« Bea warf ihm einen strengen Blick zu. Er lehnte lässig gegen die Beifahrertür, die Einkaufstasche mit den Schuhen an die Brust gepresst, als fürchtete er, irgendwer könnte sie ihm wieder entreißen. Er hatte Pickel im Gesicht — der Fluch der Pubertät, erinnerte sich Bea, obwohl ihre eigene schon vierzig Jahre zurücklag und trug eine Zahnspange. Wenn sie sich den vierzehnjährigen Jungen so betrachtete, war es ihr unmöglich, den Mann in ihm zu sehen, der er eines Tages werden würde.
»Was denn? Du hast doch selbst gesagt, da ist einer ab über die Klippen. Ich wette, er ist mit dem Kopf voraus gefallen, und sein Schädel ist geplatzt. Ich wette, er ist gesprungen. Ich wette…«
»So würdest du nicht reden, wenn du auch nur ein einziges Mal jemanden gesehen hättest, der von der Klippe gestürzt ist.«
»Krass«, flüsterte Pete.
Das macht er absichtlich, dachte Bea. Er versucht, einen Streit vom Zaun zu brechen. Er war wütend, weil er zu seinem Vater musste, und noch wütender darüber, dass ihre Pläne für den Abend zunichte waren: einen Abend mit Pizza und einer DVD. Er hatte sich einen Fußballfilm ausgesucht, aber im Gegensatz zu seiner Mutter würde sein Vater kein Interesse daran haben. Wenigstens wenn es um Fußball ging, waren Bea und ihr Sohn sich einig.
Sie beschloss, sich nicht von dem Jungen provozieren zu lassen. Sie hatte jetzt keine Zeit, sich um seine Befindlichkeiten zu kümmern, und außerdem musste er lernen, damit fertig zu werden, wenn Pläne sich änderten. Kein Plan war je in Stein gemeißelt.
Als sie sich Polcare Cove näherten, goss es in Strömen. Bea Hannaford war nie zuvor an diesem Ort gewesen, also sah sie konzentriert zwischen den Scheibenwischern hindurch und kroch aufmerksam die Serpentinen durch den Wald entlang, ehe sie aus dem Schatten der knospenden Bäume tauchten. Ab hier stieg der Weg wieder an und schlängelte sich an Feldern vorüber, die von dichten Hecken gesäumt waren. Dann führte er ein letztes Mal abwärts zur See, und das Land öffnete sich zu einer Wiese, an deren nordwestlichem Rand ein senffarckbenes Cottage mit zwei Außengebäuden stand die einzige menschliche Behausung weit und breit.
Ein Streifenwagen stand halb auf der Straße, halb in der Einfahrt des Cottages, Stoßstange an Stoßstange mit einem weiteren Polizeifahrzeug, das seinerseits gleich hinter einem weißen Vauxhall vor dem Haus parkte. Bea hielt nicht an, denn damit hätte sie die Straße vollends blockiert, und sie wusste, es würden noch jede Menge Fahrzeuge kommen, die möglichst nah an den Strand heranmussten, ehe sie hier heute fertig wurden. Also fuhr sie weiter in Richtung Meer, bis sie etwas fand, was als Parkplatz herhalten konnte: einen Flecken unbewachsener Erde, der von Schlaglöchern durchsiebt war. Dort parkte sie den Wagen.