Bolitho nahm ein Teleskop und wartete, bis das Schiff halbwegs ruhig lag, ehe er es aufs Land richtete. Üppiges Dunkelgrün, dahinter Lilatöne. Das mußte der beschriebene Berg sein. Eher ein hoher, kahler Hügel.
Er trat zurück, als weitere Matrosen mit Fallen und Taljen vorbeigetaumelt kamen und nur dem Gebrüll des Bootsmanns Beachtung schenkten.
Der lange Baum des Großsegels, der bis weit übers Heck ragte, schwang gefährlich tief über die Köpfe der Rudergänger hinweg, als das Schiff halste. Gischt fegte übers Deck, und Bolitho wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel. Er fühlte sich wieder lebendig, hatte die Ansprüche von Admiralität und Flaggschiff vorübergehend vergessen.
Die Bestückung der Supreme bestand aus zwölf winzigen Kanonen und zwei Drehbassen. Wenn es nicht gerade zu einem Seegefecht kam, war ihre Feuerkraft dennoch nicht zu verachten.
Das Vorland blieb hinter einem Gischtvorhang zurück.
Hallowes sah, daß Okes ihn beobachtete, und rief:»Alle Mann! Segel kürzen! Lotgasten, aufgepaßt!»
Hallowes wartete, bis man begonnen hatte, seine Befehle auszuführen und fragte dann:»Haben Sie vor, hier an Land zu gehen, Sir Richard?»
Bolitho verkniff sich ein Lächeln. Für Hallowes war es offenbar noch immer unvorstellbar, daß Bolitho selbst ausbooten wollte, obwohl andere bereitstanden, das für ihn zu tun.
«Während Ihre Männer Trinkwasser übernehmen, werde ich mich mit einem Fernrohr auf diesen Hügel begeben. «Das würde ein langer, steiler Marsch werden. Er sah Bankart in seiner blauen Jacke vor dem mächtigen Mast stehen und fragte sich, was er wirklich für seinen Vater empfand.
«Schauen Sie, Sir. «Hallowes beugte sich übers Schanzkleid und deutete nach unten ins klare Wasser.
Wo sich die Bugwelle verlief, sah Bolitho, wie der Grund stieg und fiel, als atme er. Tausende von Fischen huschten hin und her, und gelegentlich tauchte aus dem fahlen Sand bedrohlich ein Felsband auf.
«Fünf Faden!«Das Aussingen der Wassertiefe klang ermutigend. Die Boote wurden bereits klar zum Aussetzen gemacht: eine Gig und eine Jolle. Bolitho hörte Sheaffe tief Atem holen. Das Ärgste war vorbei.
«Freuen Sie sich aufs Land, Mr. Sheaffe?»
Der Midshipman zog Schulterriemen und Dolch gerade und erwiderte:»Jawohl, Sir. Gehe ich mit Ihnen, Sir?»
Bolitho grinste.»Es wird uns beiden guttun.»
Stayt kam an Deck. Anders als Bolitho trug er Uniformrock und Hut und hatte zweifellos seine feine Pistole griffbereit.
Füße klatschten über die nassen Planken, und der Anker fiel ins klare Wasser.
Hallowes legte die Hände auf den Rücken, und Bolitho sah, daß er die Finger fest verschränkt hatte. Er war nervös, aber das schadete nichts. Die Boote wurden gefiert.
«Ich schicke einen guten Ausguck auf diesen Kamm da, Sir«, sagte er.»Der Seekarte zufolge sollte er mit einem Fernglas bis hinüber zum nächsten Landvorsprung sehen können.»
Stayt gab Bankart einen Wink.»In die Gig!«Sein Ton war scharf, und Bolitho wußte, daß er auch Allday so barsch angesprochen hätte. Aber Bankart hatte eben noch viel zu lernen.
Bolitho wartete, bis die anderen hinunter geklettert waren. Leutnant Okes übernahm die Jolle, sein wettergegerbtes Gesicht sah wie eine alte Galionsfigur aus.
Sheaffe und Stayt zwängten sich zusammen mit ihm ins Heck, und Duncannon, der einzige Midshipman der Supreme, ein pickliger Knabe, piepste:»Ruder an!»
Bolitho hielt seinen Degen zwischen den Knien und dachte an Cornwall, wo er mit seinem Bruder in den Buchten und Höhlen gespielt hatte. Er seufzte. Das schien tausend Jahre her zu sein. Was würde Belinda denken, wenn sie seinen Brief erhielt? Er hatte versucht, nicht an ihren Streit zu rühren.
«Die Jolle ist gelandet, Sir«, meldete Sheaffe.
Bolitho sah Okes, dessen weißbestrumpfte Beine wie mächtige, umgekehrte Flaschen wirkten, durchs seichte Wasser waten. Ein breitschultriger Seemann, der nur eine zerfetzte Hose und einen Hut trug, trennte sich bereits von den anderen. Er war einer von Okes' besten Männern und braun wie ein Eingeborener; mit einem Fernglas unterm Arm schlenderte er lässig auf die Bäume und die Anhöhe zu.
Die Gig lief auf Grund. Bolitho stieg aus und wartete auf dem festen Sand, bis die Matrosen das Boot ins Trockene zogen.
Die Bäume sahen fast tropisch aus, und ihre buschigen Kronen wiegten sich wie im Tanz in der Brise. Die Besatzung der Gig fuhr bereits zum Kutter zurück, um Wasserfässer zu holen.
Bolitho fühlte an der Stirn wieder die tiefe Narbe, die ihn fast das Leben gekostet hätte. Auch damals hatten sie auf einer Insel Wasser an Bord genommen. Sonderbar, daß die Strähne über der Narbe nun weiß war, denn der Rest seines Haars war nach wie vor schwarz. Warum machte ihm das Kummer? Aus Eitelkeit oder wegen des Altersunterschieds zwischen ihm und Belinda?
Zwei mit Entermessern und Musketen bewaffnete Matrosen schlenderten hinter der kleinen Gruppe her, die unter Bolithos Führung den Hang zu erklimmen begann. Im Windschutz des Gebüschs war es schwül. Kein Vogel sang oder stieß einen Warnruf aus. Die Atmosphäre war fast schläfrig.
«Hier könnten gleich zwei Geschwader Unterschlupf finden, Sir«, sagte Stayt, der — erstaunlich für einen Mann seines Alters — bereits heftig schnaufte.»Nelson hatte recht.»
Bald sahen sie einen funkelnden Bach, der von einem plätschernden Wasserfall ausging. Okes war bereits zur Stelle und rief dröhnend nach Äxten, um eine Rollbahn für seine Fässer freihauen zu lassen.
Als sie in die helle Sonne hinaustraten, hielt Bolitho die Hand über die Augen und schaute hinab zu dem verankerten Kutter. Er sah mit seinen gefalteten Segeln wie ein anmutiges Spielzeug aus. Auf dem benachbarten Hügel richtete sich der Ausguck ein. Der Mann legte sein langes Teleskop auf eine Pyramide von Feldsteinen und konnte von dort aus die ganze Küste überblicken.
Bolitho merkte, daß ihm das Hemd am Leib klebte. Er war verschwitzt, aber in Hochstimmung und stellte sich vor, wie herrlich es wäre, in dem klaren, einladenden Wasser zu schwimmen.
Der Anstieg zur Kuppe dauerte länger als erwartet und hinterließ sie erschöpft und verschwitzt. Nur Bankart wirkte noch frisch. Kräfte wie einstmals Allday hatte der Junge, dachte Bolitho wehmütig.
Er schaute erneut hinab zum Kutter, auf dessen Deck winzige Gestalten wimmelten. Die Boote zogen langsam zwischen Schiff und Strand hin und her wie Wasserkäfer.
Dann richtete er das Fernrohr auf den Ausguckposten und sah die Sonne vom Glas des Mannes reflektieren. Er hatte sich als Sonnenschutz trockene Zweige über den bloßen Rücken gelegt und den Hut über das Teleskop gezogen.
Bolitho setzte sich auf den heißen Boden und entfaltete seine kleine Landkarte. Wo Jobert jetzt wohl steckte? Was war das Ziel der französischen Flotte?
Er hörte die anderen sich ausstrecken, dann das Geräusch einer Feldflasche, die geschüttelt wurde. Was hätte er jetzt für den klaren Rheinwein gegeben, den Ozzard in der Bilge kühl hielt!
Bolitho griff unter sein Hemd und berührte seine nasse Haut. Es fiel ihm nur zu leicht, sie sich in seinen Armen vorzustellen. Ihre Hände auf seiner Haut, ihr Flüstern, das lustvolle Wölben ihres Rückens, wenn er in sie eindrang… In jäher Verzweiflung faltete er die Karte zusammen. An wen dachte er eigentlich?
«Schauen Sie sich bloß diese Masse Vögel an«, sagte Stayt.
Ein riesiger Schwarm Möwen stieß wie von Fäden zusammengehalten aufs Wasser nieder. Es mußten Tausende sein. Als sie im Sturzflug die verankerte Supreme passierten, sah Bolitho rasche, zuckende Bewegungen im Wasser und entsann sich der Fische. Die Möwen griffen zum richtigen Zeitpunkt an, und Bolitho konnte selbst über die weite Entfernung ihr Kreischen hören.
Auf dem Deck des Kutters war die Arbeit zum Erliegen gekommen. Die Seeleute sahen zu, wie eine Möwe nach der anderen wild flatternd und mit einem silbrigen Fisch im Schnabel an Höhe gewann.