Das klang so förmlich nach allem, was der junge Mann vollbracht hatte, daß Bolitho seinen Schmerz und seine Verzweiflung vergaß.
«Großartige Leistung, Mr. Sheaffe. Wenn Sie nicht gewesen wären, hätte der Feind uns überrannt. «Er hörte, wie Sheaffe sich zähneklappernd ein Hemd überzog.»Ruhen Sie sich aus. Bald werden Sie wieder gebraucht.»
Sheaffe zögerte und setzte sich dann zu Bolitho aufs Deck.
«Störe ich Sie auch nicht, Sir?«fragte er.
Bolitho wandte sich ihm zu.»Ihre Gesellschaft ist mir willkommen. «Er lehnte sich an den Niedergang und versuchte, nicht an die nächste Schmerzwelle zu denken. Sheaffe hatte die Knie an die Brust gezogen und war im Nu eingeschlafen.
Später ging Bankart neben ihm in die Hocke und flüsterte:»Ich habe Wein für Sie, Sir. «Er wartete, bis Bolitho den Pokal gepackt hatte.»Mr. Okes schickt ihn.»
Bolitho nahm einen Schluck: starker, süßer Madeira. Er leerte den Pokal langsam, ließ sich vom Wein wärmen und stärken. Wann hatte er zuletzt etwas gegessen? Es mußte lange her sein. Vielleicht kam ihm der Madeira deshalb so stark vor. Er berührte sein Gesicht unter dem Verband. Mehrere Schnittwunden, geronnenes Blut. Außerdem hatte er dringend eine Rasur nötig. Aber darum würde sich Allday bald kümmern. Er war stark und mächtig wie eine Eiche und doch sanft wie ein Kind, wenn's darauf ankam. Bolitho und Keen hatten Grund, das nicht zu vergessen.
«Wie fühlt man sich, wenn man seinen Vater wiederfindet, Bankart?»
Die Frage schien dem Jungen peinlich zu sein.»Gut, Sir, wirklich gut. Meine Mutter wollte nie über ihn reden. Ich wußte aber, daß er bei der Marine war, Sir.»
«Haben Sie sich deshalb freiwillig gemeldet?»
Eine lange Pause.»Könnte man sagen, Sir.»
Bankart füllte den Pokal noch einmal, und als Sheaffe geweckt wurde, um in der Jolle wieder das Kommando zu übernehmen, war Bolitho umgesunken und schlief.
Okes verließ seine Rudergänger, trat zum Niedergang und blickte zufrieden auf den Vizeadmiral hinab.
«Schläft er endlich?«fragte Hallowes.
Okes putzte sich mit einem roten Taschentuch vernehmlich die Nase.
«Aye, Sir. Kein Wunder nach dem, was ich ihm in den Madeira getan habe.»
Bolitho spürte eine Hand auf seinem Arm und fuhr auf.»Es dämmert, Sir«, sagte Stayt.
Bolitho faßte sich an den Verband, bemüht, sich seine Qualen nicht anmerken zu lassen.»Wie sehe ich aus?»
Stayts Stimme klang, als lächle er.»Ich habe Sie schon in besserer Verfassung erlebt, Sir. «Er nahm Bolithos Hand.»Hier ist eine Schüssel mit warmem Wasser und so was wie ein Handtuch.»
Bolitho nickte dankbar und beschämt zugleich, als er sich mit dem nassen Tuch übers Gesicht fuhr. Es war nur eine Kleinigkeit, aber sie rührte ihn.
«Sagen Sie mir, was sich tut.»
Stayt dachte nach.»Wir haben ungefähr eine Meile zurückgelegt, Sir. «Das klang weder verbittert noch überrascht.»Im Augenblick sind wir über einer Untiefe. «Er verstummte, als der Lotgast aussang:»Drei Faden!»
Bolitho vergaß seine Schmerzen und raffte sich auf. Nur drei Faden Wasser, und sie waren eine Meile von ihrem letzten Ankerplatz entfernt. Er spürte den Wind im Gesicht, als er den Kopf übers Schanzkleid hob, hörte das Klatschen der Riemen. Einer der Bootsführer gab den Takt an. Die Mannschaft muß völlig verausgabt sein, dachte er.
«Ist es schon hell?»
«Ich kann das Kliff sehen, Sir, und gerade eben den Horizont. Der Himmel sieht finster aus. Ich glaube, wir bekommen viel Wind.»
Hallowes rief:»Weckt die Freiwache! Wir setzen Segel.»
Das Deck hob sich in der Dünung, und Bolitho wurde die Kehle eng. Das offene Meer erwartete sie. Die knarrenden Pumpen, die zerfetzten Segel würden sie nicht behindern, wenn sie erst einmal Seeraum gewonnen hatten, Bewegungsfreiheit.
«Ruft die Boote zurück!«befahl Hallowes.
Pfeifen schrillten, und jemand stieß einen spöttischen Hochruf aus, als die Schleppleinen schlaff wurden und die Ruderer über den Riemen zusammensanken.
«Fünf Faden!«Männer hasteten an ihm vorbei, als erst das eine und dann das andere Boot an Bord gehievt wurde.
Der Kutter schien sich zu rühren, und Bolitho hätte gerne die Männer auf den Rahen auslegen gesehen. Hoch über ihm knallte laut ein Segel in der feuchten Luft.
«Untiefe Steuerbord voraus!»
«Pest und Teufel!«brüllte Hallowes.»Klar zum Ankern!»
Okes flüsterte rauh:»Lassen Sie das, Sir! Wir schwojen und laufen auf Grund, wenn wir ankern.»
Jetzt war Hallowes konfus.»Wenn Sie meinen?»
Doch Okes handelte bereits.»Einen Strich anluven! Recht so!«Er mußte die Hände an den Mund gelegt haben, denn seine Stimme dröhnte übers ganze Deck.»Hoch mit dem Klüver, Thomas.»
«Geht das schon wieder los?«Stayts Stimme klang gefährlich kühl.»Untiefen! Verflucht, ich kann sogar Brecher sehen!«Er fügte hinzu:»Verzeihung, Sir, aber ich bin so etwas nicht gewöhnt.»
Bolitho hob das Kinn, um nachzuprüfen, ob er durch den Verband Licht erkennen konnte. Doch alles blieb dunkel.»Ich auch nicht.»
«Ruder in Lee!«bellte Okes.
Bolitho hörte erschreckte Ausrufe, als die Supreme mit einem heftigen Ruck eine Sandbank berührte. Gerät rollte an Deck herum, und ein Vierpfünder bäumte sich auf seiner Lafette auf, als sei er plötzlich zum Leben erwacht. Das Schaben und Rucken schien eine Ewigkeit zu dauern, in deren Verlauf Okes seinen Rudergängern zuredete und hin und wieder den Decksoffizieren einen Befehl gab.
Dann hörte das Rütteln auf, sie schwammen wieder, und kurz darauf rief jemand:»Die Pumpen schaffen es noch, Sir!»
Durch die Zähne sagte Stayt:»Das war ein verdammtes Wunder. Eine Armlänge querab lagen Felsen, aber wir haben nur Sand berührt.»
«Vier Faden!«Der Lotgast mußte fast von seinem unsicheren Sitz geschleudert worden sein, dachte Bolitho. Doch sie waren durch.
«Marssegel los!»
Auf offener See konnte den Kutter trotz seines beschädigten Rumpfes kein anderes Schiff einholen.
Die Männer tauschten erleichterte Rufe. Für den Augenblick waren Angst und Gefahr vergessen.»Unser Arzt wird schon wissen, was für Ihre Augen zu tun ist«, sagte Stayt.»Sobald wir das Flaggschiff sichten…«Er brach ab.»Das kann doch nicht wahr sein!»
«Segel in Luv, Sir!»
Bolitho war fast dankbar, daß er ihre entsetzten Gesichter nicht sehen mußte. Der französische Kommandant war nicht so leichtsinnig gewesen, hinter dem Landvorsprung zu warten, sondern war in der Nacht und während Hallowes' Männer sich an den Riemen abplagten, luvwärts zu dem Kliff, an dem er zuerst erschienen war, aufgekreuzt. Nun hatte er den Wind im Rücken und hielt rasch auf sie zu. Am Osthorizont, wo es dämmerte, waren nur seine vollgebraßten Marssegel sichtbar.
Bolitho mußte sich die Lage nicht erst von Stayt beschreiben lassen. Er erkannte ihre Hoffnungslosigkeit, als sähe er sie mit Hallowes' Augen. Nur eine Meile weiter, und sie hätten den Kanonen der Fregatte entkommen können. Doch nun lagen sie trotz der leicht veränderten Windrichtung noch immer vor einer Leeküste, und beide Schiffe liefen auf einen unsichtbaren Treffpunkt zu. Diesmal gab es kein Entkommen.
«Heißt Gefechtsflagge, Thomas!«rief Hallowes.»Kanonen laden und ausrennen!»
Als die Männer eilig gehorchten, wurde sich Bolitho der Stille bewußt: kein Gebrüll, keine Drohungen und ganz bestimmt keine Hochrufe. Die Männer, die dem sicheren Tod ins Auge sahen, arbeiteten zwar noch gut, waren aber im Geiste anderswo.
«Bankart!»
«Zur Stelle, Sir.»
«Geh unter Deck und hole mir Hut und Rock.»
Er mochte schmutzig und blutverschmiert sein, war aber immer noch ihr Admiral. Er konnte nicht zulassen, daß sie ihn schon jetzt geschlagen sahen.
Ein dreifaches Krachen. Die Fregatte hatte mit ihren Buggeschützen bereits das Feuer eröffnet. Aber die Kugeln warfen noch weit entfernt Fontänen auf.
Bolitho hörte Okes murmeln:»Werden Sie sich zum Kampf stellen, Sir?»
«Soll ich vielleicht die Flagge streichen?«Hallowes schien ganz ruhig. Oder war er schon jenseits aller Emotionen?
Weitere Schüsse ließen die Luft erzittern. Bolitho hörte eine Kugel diesmal in der Nähe einschlagen und Wassertropfen wie Schrot durch die Wanten prasseln.