Er sah Bolitho zur Sitzbank zurückkehren und merkte, daß er bedächtig einen Fuß vor den anderen setzte, als wolle er die Bewegungen des Schiffes ertasten, einer Falle ausweichen.
Bolitho wußte, daß Keen ihn beobachtete. Aber wie könnte ich meinen Kummer teilen? dachte er. Wie kann ich ihm sagen, daß ich außer mir vor Sorge bin? Haß, Rachsucht, Kaltblütigkeit sollten in meinem Leben keine Rolle spielen, und dennoch.
«Ich mache mir die Mühe, weil ich nicht vergessen habe, wie ich mich in seinem Alter fühlte, Val. Getreten und schikaniert, von keinem geachtet, keiner vertraute mir — ein gutes Wort hätte da einen gewaltigen Unterschied gemacht. «Er schüttelte den Kopf.»Ich hoffe nur, daß ich das nicht vergesse.»
Der Schiffsarzt hatte seine Tasche gepackt und verabschiedete sich. An der Tür schaute er Keen an.»Da der junge Mr. Bolitho im Anmarsch ist, hoffe ich, daß wir in dieser schwierigen Situation bald einen Verbündeten bekommen.»
Bolitho zog die Stirn kraus.»Unverschämtheit!»
Keen schloß die Tür.»Was er sagt, hat Hand und Fuß.»
In jäher Erkenntnis fuhr Bolitho zusammen. Adam wußte nichts von seiner Verletzung. Wie würde er es aufnehmen?
«Ihr Neffe ist stolz auf Sie, Sir«, meinte Keen sanft, als hätte er seine Gedanken gelesen.»Und ich bin es auch.»
Bolitho gab keine Antwort und starrte noch immer achteraus, als Keen sich entfernte.
Oben nickte Keen seinen Offizieren zu und schaute zum klaren Himmel auf. Es war schön, aber kühl. Er trat an die Querreling und blickte hinab in die Kühl, den Marktplatz, wie er es nannte. Der Segelmacher und seine Gehilfen waren darin mit ihrem Handwerk beschäftigt, flickten und verstärkten. Bootsmann und Schiffszimmermann berieten über die Holzvorräte, und starker Teergeruch lag in der Luft.
Doch Keen dachte an das Nachspiel des Gefechts. An die Erleichterung, als er Zenoria wieder in den Armen hielt, an das unglaubliche Glück, das einer dem anderen bedeutete. Sie hatte das Gesicht an seiner Brust vergraben, als er sie so fest umarmte, daß er durch das Hemd hindurch die Narbe auf ihrem Rücken spürte.
Die letzte, fürchterliche Explosion war durch den Laderaum gefahren wie ein Donnerschlag, hatte Ozzard berichtet. Zenoria habe seine und Millies Hand gehalten und mehr Mut bewiesen als sie beide zusammen.
Keen erblickte Allday an den inzwischen wieder eingesetzten Booten. Wütend reckte er den Kopf bis auf eine Handbreit vor das Gesicht des Zweiten Bootsführers. Das sah übel aus. Wie den Arzt begann auch Keen Bankarts Anwesenheit zu stören.
«An Deck! Schiff Backbord voraus!»
Keen warf Paget einen Blick zu und nickte. Firefly hätte zu keinem günstigeren Augenblick eintreffen können. Der junge Hickling konnte nicht ahnen, wie willkommen seine Meldung gewesen war.
Firefly brachte Nachrichten aus der Heimat, vielleicht einen Brief für den Admiral. Aus London konnte noch nichts eingetroffen sein, was Zenoria anging. Aber zumindest war die Sache in die Wege geleitet, Krieg hin oder her. Er dachte an sie in seinen Armen, wie selbstverständlich sich das angefühlt hatte.
Paget betrachtete ihn und wandte sich zufrieden ab.
Der Kommandant sah glücklich aus. Das mußte jedem Ersten Offizier nur recht sein.
Bolitho erhob sich, als vertraute Geräusche durchs Skylight drangen. Die Männer waren an die Brassen gerufen worden. Das Flaggschiff bereitete sich zum Beidrehen vor und zum Empfang des Kommandanten der Brigg.
Wie gern hätte er an der Schanzkleidpforte gestanden, wenn Adam an Bord kam. Doch das war Keens Privileg — ein Kommandant begrüßte den anderen. Aber er wußte, daß er nicht nur aus Tradition fernblieb. Er hatte auch Angst vor dem, was sein Neffe denken und sagen mochte, wenn er ihn zu Gesicht bekam.
Allday trat aus der Schlafkabine und hielt ihm den Rock hin. Bolitho war so in Gedanken, daß er Alldays finstere Laune nicht spürte. Vielleicht ein Brief von Belinda…
Er hob den Kopf, als Pagets Stimme übers Deck schallte.
Das Ruder der Argonaute wurde gelegt, und sie schwang mit laut killendem Tuch in den Wind, schwankte eine Zeitlang heftig, bis die verbliebenen Segel aufgegeit waren.
Einen Augenblick lang hatte er Adams Brigg durch die wassertriefenden Fenster gesehen, ihre Flagge als kleinen Farbfleck im Wind. Er fragte sich, ob Fireflys Eintreffen von einem ungesehenen Fischerboot bemerkt, ob ihr Auftrag bereits einem Spion in Gibraltar oder Verräter in London bekannt geworden war.
Allday musterte ihn stumpf. Er konnte es nicht ertragen, seinen Admiral so hilflos und unsicher zu sehen. Er hatte versucht, ihn mit seinem Körper zu decken, als sie den Franzosen angriffen, weil Bolitho einfach dagestanden hatte, unfähig oder nicht bereit, sich in Deckung zu begeben.
«Schön, Adam wiederzusehen, auch wenn es nur für kurze Zeit ist«, sagte Bolitho.»Inch stößt in ein paar Tagen zu uns, und dann machen wir uns gemeinsam auf die Suche nach Jobert!»
Allday nahm den alten Degen von der Wand. Er haßte Jobert, weil er Bolitho so zugerichtet hatte.
Pfeifen trillerten, die Seesoldaten präsentierten ihre Musketen. Aber es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Yovell die äußere Tür öffnete. Bolitho kam Adam ein paar Schritte entgegen, bemüht, an einer Stelle zu bleiben, von der aus er an einem Tisch oder Stuhl Halt finden konnte.
Doch es kamen zwei Besucher, nicht nur einer.
Bolitho ergriff Adams Hände und merkte, daß sein Neffe bereits Bescheid wußte.
«Wie geht's, Onkel?«Adam versuchte nicht, seine Besorgnis zu verbergen.
«Nicht übel. «Er wollte das Thema wechseln.»Du vernachlässigst deine Pflicht. Wie heißt unser Gast?»
«Mr. Pullen«, erwiderte Adam betreten.»Von der Admiralität.»
Der Mann hatte einen knochigen Händedruck.»Unterwegs nach Malta, Sir Richard. «Es hörte sich an, als lächelte er.
«Bitte nehmen Sie Platz. Allday, geh Ozzard holen. «Er wußte, daß Adam ihn anstarrte, um die Schwere seiner Verletzung abzuschätzen.
«Und was führt Sie hierher, Mr. Pullen?»
Der Mann machte es sich bequem. Er war ganz in Schwarz wie eine Krähe, fand Bolitho und kehrte dem Licht den Rücken zu, da er wußte, daß sie so nur seinen Verband zu sehen bekamen und sonst nichts.
«Ich habe mich in Malta im Auftrag von Admiral Sir Hayward Sheaffe um gewisse Angelegenheiten zu kümmern, Sir Richard.»
Bolitho rang sich ein Lächeln ab.»Geheime Angelegenheiten, nicht wahr?»
«Gewiß, Sir Richard. «Als Ozzard mit einem Tablett herbeigeeilt kam, sagte er:»Vielen Dank, Wein mit Wasser genügt mir.»
«Ich hätte dich gern gesprochen, Onkel«, sagte Adam.
Bolitho entnahm seinem Ton, daß etwas nicht stimmte.»Kann das nicht warten?«fragte er.»Ich bin sehr beschäftigt.»
Pullen zog einen Umschlag hervor und legte ihn auf den Tisch. Bolitho starrte ihn an, fühlte sich in die Enge getrieben, denn er konnte nicht lesen.»Darf ich auch Sie um Geduld bitten?»
Der Mann zuckte die Achseln.»Ich kann mir vorstellen, daß Sie alle Hände voll zu tun haben, Sir Richard. Schließlich haben Sie ein Gefecht hinter sich, auch wenn man das dem Schiff kaum ansieht.»
Bolitho unterdrückte eine jähe Gereiztheit.»Wir haben einen französischen Zweidecker versenkt. «Mehr sagte er nicht.
«Vorzüglich. Sir Hayward wird sich freuen. «Pullen musterte sein Glas mit verdünntem Wein.»Ich belästige Sie nur ungern, Sir Richard. Aber die Angelegenheit ist wichtig. Man hat mich ersucht, Ihren Flaggkapitän aufzufordern, in Malta umgehend vor einem Untersuchungsausschuß zu erscheinen.»
Kein Wunder, daß Adam versucht hatte, ihn zu warnen.»Zu welchem Zweck?«fragte Bolitho gelassen.
«Aus zwei Gründen, wie ich höre, Sir Richard«, meinte Pullen selbstgefällig.»Er verhielt sich unklug, indem er einen Verbannungsbefehl mißachtete und eine Frau — «, er betonte das Wort, als sei es eine Obszönität —»aus dem Gewahrsam entfernte. Ich nehme an, daß er für seine Handlungen, wie fehlgeleitet sie auch sein mögen, eine Erklärung hat, muß aber darauf hinweisen…»
«Wer hat diese Anschuldigung erhoben?»