Bolitho setzte sich mit Belindas Brief auseinander. Er war noch immer nicht ganz sicher, was er eigentlich erwartet hatte. Auf jeden Fall mehr. Ihr Brief war nicht kurz, ließ aber jede persönliche Note vermissen. Sie hatte von Haus und Hof geschrieben, von Fergusons Absicht, den Gemüsegarten zu vergrößern, von dem alten Steuereinnehmer, dessen Frau schon wieder ein Kind erwartete.
Seltsam, er hatte sich den Brief nicht von Yovell oder Ozzard vorlesen lassen, sondern Zenoria gerufen. Ihre Stimme hatte eher wie die Belindas geklungen, doch der Brief selbst war oberflächlich und ausweichend gewesen; London oder ihr kühler Abschied blieben unerwähnt.
Der Brief schloß:»Deine Dich liebende Frau Belinda.»
Er entsann sich an den Klang ihres Namens auf Zenorias Lippen; wie sehr ihn das bewegt und beunruhigt hatte.
Das Mädchen hatte ihm den Brief zurückgegeben und gesagt:»Sie ist eine gute Frau, Sir.»
Bolitho hatte ihre Verzweiflung, ihren Neid gespürt. Keen mußte ihr von Pullens Besuch erzählt haben.
«Kommen Sie ein bißchen näher«, hatte Bolitho gesagt. Als sie sich neben ihn setzte, ergriff er ihre Hände.»Keine Angst, ich halte mein Wort.»
Ihre Antwort hatte Zweifel verraten:»Wie wollen Sie mir jetzt noch helfen, Sir? In Malta wartet Gefängnis auf mich.»
Es hatte ängstlich, aber auch entschlossen geklungen.»Die bekommen mich nicht bei lebendigem Leibe! Niemals!»
Er hatte ihre Hand gedrückt.»Was ich Ihnen jetzt sage, muß unser Geheimnis bleiben. Wenn Sie es meinem Kapitän verraten, machen Sie ihn zum Komplizen. Er darf nicht noch mehr Schuld auf sich laden.»
Sie hatte eingewilligt.
Bolitho fröstelte. Noch immer wußte er nicht ganz genau, wie er sich der Angelegenheit annehmen sollte. Doch Zenoria durfte nicht verzagen. Womöglich stürzte sie sich über Bord oder tat sich ein Leid an, nur um nicht wieder eingesperrt zu werden.
Der Ausguck schrie:»Schiff in Südost! Die Helicon, Sir!»
Bolitho konnte sich Inchs Schiff vorstellen, dessen Segel in der schwachen Morgensonne wie rosa Muscheln leuchten mußten, wie es so auf die Argonaute zuhielt.
Wieder dachte er an Zenoria. Bald würde sie vom Eintreffen seines Stellvertreters erfahren. Damit wurde die Schraube weiter angezogen, die Fahrt zur herzlosen Obrigkeit in Malta rückte näher.
Keen kam barhäuptig und ohne Rock an Deck. Er starrte Bolitho an und suchte nach einer Erklärung.
Bolitho lächelte.»Schon gut, Val. Ich konnte nicht schlafen und wollte mir nur die Beine vertreten.»
Keen grinste erleichtert.»Tut richtig gut, Sie wieder an Deck zu sehen, Sir!«Dann wurde er ernst.»Ich möchte Sie nicht weiter belasten, aber.»
Bolitho unterbrach ihn.»Ich habe schon einen Plan.»
«Aber, Sir.»
Bolitho hob die Hand.»Ich weiß, was Sie sagen wollen: daß die Verantwortung nur bei Ihnen liegt. Aber da irren Sie sich. Solange meine Flagge über diesem Geschwader weht, fühle ich mich für die Angelegenheiten meiner Offiziere und insbesondere meines eigenen Flaggkapitäns verantwortlich. «Seine Stimme klang bitter, als er hinzufügte:»Seit mein Bruder zur amerikanischen Marine desertierte, gibt es Leute, die meine Familie unbedingt in Verruf bringen wollen. Mein Vater mußte darunter leiden, und ich selbst war mehr als einmal Ziel böswilliger Intrigen. Adam ebenfalls, aber das wissen Sie ja. Ich werde also nicht zulassen, daß man Sie ruiniert, nur um mir eins auszuwischen.»
«Glauben Sie denn wirklich, daß man dadurch Ihnen Schaden zufügen will, Sir?»
«Ohne jeden Zweifel. Doch niemand wird damit rechnen, daß ich Sie aus Ihrer Verantwortung entlasse und sie selbst auf mich nehme. «Kein Wunder, daß Pullen, dieser Aasgeier, so selbstsicher gewirkt hatte. Bei der Erkenntnis empfand er einen Haß, der ähnlich heftig war wie in dem Augenblick, als er beinahe die Breitseite nach der Kapitulation des französischen Zweideckers befohlen hatte.
Er hörte sich sagen:»Lassen Sie mich das auf meine Weise regeln, Val. Und danach machen wir uns auf die Suche nach dem wahren Feind — wenn es nicht schon zu spät ist.»
Keen beobachtete ihn. Hatte die Verwundung bei Bolitho Verfolgungswahn ausgelöst? Keen hatte zwar von den Angriffen auf die Familie Bolitho gehört, von den Methoden, mit denen in der Vergangenheit versucht worden war, Beförderungen zu verhindern oder tapfer verdiente Anerkennung zu versagen. Aber es konnte doch mitten im Krieg niemand so wahnsinnig sein, tiefsitzende Ressentiments dieser Art gegen ihn auszunutzen?
«Wenn nur Zenoria in Sicherheit wäre, Sir«, sagte Keen.
«Zenoria ist lediglich ein Werkzeug, Val, da bin ich ganz sicher. «Er drehte sich um, als der Midshipman rief:»Signal von Rapid, Sir!»
Bolitho sah die Flaggen von der Rah auswehen und hörte Keen sagen:»Sie können das Signal ja sehen, Sir!»
Bolitho versuchte, seine Erregung zu verbergen.»Recht deutlich. «Er wandte sich zur Poop. Bald würde der andere Verband abgenommen werden, und dann zum Teufel mit Tusons düsteren Prophezeiungen. Wenn Inch an Bord kam, sollte er einen Admiral vorfinden, keinen schwächlichen Krüppel. Er ging mit langen Schritten zu seinem Quartier und verlor nur einmal das Gleichgewicht, als das Schiff in ein tiefes Wellental tauchte.
Yovell schrak von seinem Schreibtisch auf, als er Bolitho durch die Tür schreiten sah.
«Ich möchte Instruktionen für Kapitän Inch von der Heli-con diktieren. Anschließend werde ich den Gentleman an Bord empfangen, ehe wir uns wieder trennen«, sagte er. Beflissen zog Yovell Schubladen auf und suchte nach einer neuen Feder.»Und dann soll Midshipman Hickling bei mir erscheinen.»
Yovell nickte.»Ich verstehe, Sir Richard.»
Bolitho musterte ihn scharf. Nichts verstehst du, aber das macht nichts.
«Der Arzt erwartet Sie, Sir«, sagte Yovell.
Bolitho stützte sich mit beiden Händen auf den Sessel und betrachtete sein Spiegelbild. Die kleinen Schnittwunden waren fast verheilt, sein Auge sah beinahe normal aus. Selbst das gelegentliche Brennen war weniger spürbar.
«Schicken Sie ihn rein. «Er zupfte am Verband.»Ich habe gleich eine Aufgabe für ihn.»
Allday kam durch die andere Tür und sah besorgt zu, wie Bolitho sich anschickte, selbst den Verband abzunehmen.»Sind Sie auch ganz sicher, daß das klug ist, Sir?»
«Sie können sich später als Barbier betätigen.»
Allday warf einen Blick auf Bolithos schwarzes Haar. Sieht doch noch ganz passabel aus, dachte er, wollte aber Bolithos neugefundene Energie nicht dämpfen.
Tuson dagegen nahm kein Blatt vor den Mund, als er Bolitho untersuchte.»Wenn Sie schon nicht auf mich hören wollen, Sir«, sagte er zornig,»dann warten Sie wenigstens ab, bis Sie von einem Fachmann untersucht worden sind!»
Der Verband fiel zu Boden, und Bolitho mußte sich zusammennehmen, um nicht zu zucken oder die Fäuste zu ballen, als der Arzt sein Auge zum hundertsten Mal untersuchte.»Es hat sich nicht gebessert«, sagte Tuson nach einer Weile.»Wenn Sie sich nur schonen wollten…»
Bolitho schüttelte den Kopf. Er konnte auf dem Auge nur undeutlich sehen, aber die Schmerzen waren nicht zu schlimm.»Ich fühle mich besser, und darauf kommt es an.»
Tuson schloß heftig seine Tasche.»Wenn Sie ein gemeiner Matrose wären, Sir Richard, würde ich Sie einen verdammten Narren heißen. «Er zuckte die Achseln.»Aber da Sie Admiral sind, schweige ich.»
Bolitho wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, und massierte sich dann das Auge. Anschließend starrte er sich mehrere Sekunden lang im Spiegel an. Er würde Joberts Geschwader ausfindig machen und vernichten, ganz gleich, was geschah. Und wenn seine Männer im Gefecht zu ihm aufschauten, mußten sie bei seinem Anblick Mut fassen, nicht ihn verlieren.
Während der fünfeinhalbtägigen Überfahrt nach Malta verbrachte Bolitho den Großteil seiner Zeit in der Kajüte, um Keen freie Hand für die Reparaturen und Änderung der Wacheinteilung zu lassen, für das Exerzieren an Segeln und Geschützen. Die Besatzung mochte ihren Kommandanten verfluchen, aber Bolitho war zufrieden, wenn er das Quietschen der Geschützlafetten auf den Decks hörte oder die Rufe der Offiziere, die zaghafte Landratten in schwindelnde Höhen scheuchten. Allerdings kamen sie nur sehr langsam voran, manchmal mit sechs Knoten oder weniger. Ihm war deutlich bewußt, daß die Rückkehr auf ihre Station ebensoviel Zeit in Anspruch nehmen würde.