Zu seinem Vertreter Inch, einem geschickten und erfahrenen Kommandanten, hatte er kein unbegrenztes Vertrauen. Er besaß zwar genug Initiative, zögerte aber oft, sie zu ergreifen. Das machte Bolitho, dem der pferdegesichtige Inch über die Jahre ans Herz gewachsen war, Sorgen.
Keen kam und meldete, daß der Ausguck die Insel Malta gesichtet hätte.»Einlaufen werden wir erst am Spätnachmittag oder vielleicht während der Hundewache, Sir«, ergänzte er.»Es sei denn, der Wind frischt auf.»
Bolitho merkte, daß Keen sich alle Mühe gab, nicht in sein unverbundenes Auge zu starren. Über die Verletzung wurde nie gesprochen, doch man war sich ihrer immerzu bewußt.
«Gut. Wenn wir auf der Reede sind, komme ich an Deck.»
Keen ließ ihn allein, und Bolitho setzte sich. Was war der nächste Schritt? Würde man ihn wegen seiner Verletzung vorübergehend ablösen oder ihm sein Kommando gar ganz nehmen? Keen meinte, er bilde sich diese Intrige nur ein, aber es waren einfach zu viele Zufälle auf einmal. Bolitho zog die Stirn kraus, als er sich seine Offiziere und Kommandanten vorstellte. Houston von der Icarus war der wahrscheinlichste Kandidat, da er zum Zorn neigte und einen Groll gegen Keen hegte. Auch seinen Admiral liebte er nicht gerade.
Er faßte einen Entschluß. Wenn er mit keinem Argument die Anschuldigungen vom Tisch fegen und auch das Mädchen nicht retten konnte, mußte er zum äußersten bereit sein.
«Ozzard, sagen Sie Allday, er soll Zenoria zu mir bringen. «Er trat an die Fenster und sah achteraus ein kleines Fischerboot auf den Wellen tanzen. Malta, immer wieder umkämpft, erobert und verloren, hatte den Schutz der britischen Marine eher aus Angst vor den Franzosen als aus Loyalität zu Großbritannien angenommen.
Bolitho stieß eine stumme Verwünschung aus, als das Schiff beim Kurswechsel überholte. Fast hätte er wieder das Gleichgewicht verloren. Das war ebenso entnervend wie der Nebel, der vor seinem Auge hing wie feine Seide.
Die Tür ging auf, und Allday kam mit Zenoria herein.
«Es ist fast soweit. «Bolitho geleitete sie zu einem Sessel und sah, wie sie die Armlehnen umklammerte, was ihre Fassung Lügen strafte. Er trat hinter sie und berührte ihr langes Haar.»Sind Sie auch ganz sicher, Sie tapferes Mädchen?»
Sie nickte und packte die Lehnen noch fester.
«Na, dann Kopf zurück, Miss«, murmelte Allday heiser.
Sie legte den Kopf auf die Rücklehne, knöpfte nach kurzem Zögern ihr Hemd auf und legte ihren Hals frei. Bolitho ergriff ihre Hand. Kein Wunder, daß Keen sie anbetete.
«Ich bringe es nicht fertig, Sir«, sagte Allday verzweifelt.
«Fangen Sie an«, sagte sie leise.»Sofort!»
Allday stieß einen tiefen Seufzer aus, ergriff ihr Haar und zückte die Schere.
Bolitho sah die schwarzen Locken zu Boden fallen.»Ich gehe jetzt an Deck. «Er drückte ihre Hand, die trotz der Schwüle in der Kajüte eiskalt war.»Allday kümmert sich um Sie. «Dann beugte er sich vor und küßte sie sanft auf die Wange.»Ihr Mut wird uns allen Kraft geben, Zenoria.»
Später, als er zu Keen aufs Achterdeck trat und zusah, wie sich der Hafen mit den weißen Festungsanlagen vor ihnen öffnete, mußte er seine Besorgnis mit Gewalt unterdrücken.
Salutschüsse begannen über das stille Wasser zu hallen, und auf der nächstgelegenen Batterie dippte man die Flagge. In Malta lagen zahlreiche Küstenfahrzeuge und mehrere große Kriegsschiffe. Bolitho hob ein Teleskop und hielt es vorsichtig an sein gutes Auge. Am nächsten zum Kai lag ein eleganter Zweidecker, von dessen Besanmast müde die Flagge eines Konteradmirals flatterte.
Ihm schnürte es die Kehle zu, denn das war eindeutig die Benbow. Vor seinem inneren Auge tauchten Bilder auf. Wann war er selbst Konteradmiral gewesen? Vor drei Jahren in der Ostsee, als sein Neffe Adam Dritter Offizier und Herrick Flaggkapitän seines Schiffes gewesen war.
Von dem schweren, schwarzbraunen Rumpf wanderte sein Blick zu einer stämmigen Brigg, die viel näher zu ihnen verankert war. Ungeduldig wartete er, bis sie in der sanften Brise an ihrem Ankertau herumgeschwojt war und die Sonne ihr vergoldetes Heck aufblitzen ließ. Dann erkannte er aufatmend ihren Namen: Lord Egmont. Sie war eines der ältesten Falmouth-Frachtschiffe, und er hatte sie schon als Fähnrich gekannt. Mit ihrer Anwesenheit hatte er gerechnet, da ihr Name in seinen Instruktionen von der Admiralität aufgetaucht war. Doch Wind und See oder der Feind hätten alles ändern können. Und selbst jetzt noch.
Er setzte das Glas ab, und die Brigg verschwand wieder in der dunstigen Ferne.
Der Pulverdampf des Saluts hing noch über den Rahen, als Matrosen herbeigepfiffen wurden, um die beiden Kutter zu Wasser zu lassen für den Fall, daß der Wind für die Wende am Ankerplatz nicht stark genug war. Ein Wachboot lag reglos im glitzernden Wasser; wahrscheinlich interessierte sich nur seine Besatzung für ihre Ankunft. Kriegs — schiffe waren hier eine alltägliche Erscheinung, Aufmerksamkeit erregten nur die Truppentransporter und Postschiffe aus England.
Keen legte die Hände um den Mund.»Klar zum Fallenlassen, Mr. Paget!»
Bolitho starrte zum Ufer mit der uralten Festung und seinem geschäftigen Markt. Ein Kriegshafen, wimmelnd wie ein Ameisenhaufen. Und ein gutes Betätigungsfeld für Spione.
Keen sagte:»Die Firefly ist bereits ausgelaufen, Sir.«»Aye. «Zumindest Adam war aus der Sache heraus, ganz gleich wie hilfsbereit er sich auch gezeigt hatte. Liegt diese Solidarität daran, daß wir alle aus Cornwall sind? überlegte er. Ein hoher Offizier hatte ihm einmal ins Gesicht gesagt:»Aus Cornwall? Ihr seid doch alle Piraten und Rebellen!»
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Argonaute endlich mit säuberlich aufgetuchten Segeln vor Anker lag. Sonnendächer wurden aufgespannt, und dann erwartete die Besatzung die kommenden Ereignisse.
Bolitho sah fremde Boote auf sie zuhalten: der Wachoffizier, ein Schiffsausrüster von der Werft, ein verlegen drein-blickender Fähnrich von der Garnison, der die Zofe Millie abholen kam. Sie schien nicht von Bord zu wollen und klammerte sich trotz des anzüglichen Grinsens der Matrosen an ihren Korporal, als gälte es ihr Leben.
Keen sah vom Poopdeck aus Leutnant Stayt mit dem Bootsmann sprechen. Dann lösten Matrosen die Verzur-rung der Admiralsbarkasse. Bolitho wollte an Land, früher als erwartet, was ihn unbehaglich stimmte.
Der Wachoffizier salutierte und reichte Keen einen amtlich aussehenden Umschlag. Dabei wirkte er betreten, als führe er einen Auftrag aus, der ihm gegen den Strich ging. Es handelte sich um eine Vorladung ins Hauptquartier: Keen hatte in zwei Tagen vor einem Tribunal der Admiralität zu erscheinen. Der befehlshabende Flaggoffizier mußte sie sofort nach Sichtung der Argonaute abgesandt haben.
Stayt wartete, bis das Wachboot abgelegt hatte, und ging dann nach achtern.
«Ich soll Sir Richards Depeschen an Land bringen, Sir.»
Keen nickte. Stayt würde also die Barkasse nehmen. Ihm fiel auf, daß sie von Bankart, dem Zweiten Bootsführer, kommandiert wurde. Ungewöhnlich, dachte er. Normalerweise führte Allday die Barkasse, wenn sie im Hafen oder unter den Augen der Flotte lagen.
Er hörte Midshipman Hickling um Erlaubnis bitten, mit der Gig zu einem in der Nähe liegenden Frachtschiff fahren zu dürfen. Paget war einverstanden, als er erfuhr, daß auch eine Nachricht vom Admiral mitgesandt werden sollte.
Keen schaute zur Flagge auf. Wenn sie wieder eingeholt wurde, mochte dies das Ende für sie beide bedeuten.
Midshipman Sheaffe kam eilig die Leiter zum Poopdeck hoch und meldete:»Empfehlung vom Admiral, Sir: Er erwartet Sie um acht Glasen.»