Bolitho nickte. Typisch für diesen Mann, dachte er. Er war hart und kompromißlos, aber in diesem Fall hatte er korrekt gehandelt: Es ging darum, entweder ein Schiff zu retten oder das ganze Geschwader zu verlieren.
«Jobert tut nichts ohne Grund«, sagte er.»Und bisher war er uns immer einen Schritt voraus. «Er sah, daß Keen ihn grimmig beobachtete. Mit dem Verlassen seiner zugewiesenen Station war er ein großes persönliches Risiko eingegangen. Egal. Seit dem Tribunal von Malta stand er ohnehin auf der schwarzen Liste. Die Erkenntnis, daß Ruf und Risiko ihm jetzt gleichgültig waren, machte ihn fast übermütig.
Houston sagte mit seiner barschen Stimme:»Wir müssen überlegen, wann und wo wir Trinkwasser übernehmen können, Sir.»
Bolitho sah ihn an und wurde sich des Schleiers vor seinem linken Auge bewußt.
«Kommt nicht in Frage, Kapitän Houston. «Er schaute die anderen an.»Keiner von uns nimmt Wasser an Bord. Kürzen Sie die Rationen, halbieren Sie sie meinetwegen, aber wir bleiben zusammen, bis alles vorüber ist.«Ganz gleich, wie es ausgeht, hätte er beinahe hinzugefügt; doch den Gesichtern der anderen war anzumerken, daß sie ohnehin diesen Gedanken hatten.
«Ich brauche alle verfügbaren Informationen. Küstenschiffe müssen gestoppt und gründlich durchsucht werden, auch wenn sie unter neutraler Flagge segeln. Wer sich widersetzt, wird versenkt. «Er spürte, daß sich wieder Haß in seinen Tonfall einschlich, und dachte an Herrick, an den Kummer in seinen blauen Augen beim Abschied auf der Benbow. Insgeheim wußte Bolitho, daß Herrick vernünftig gehandelt hatte. Er selbst konnte Günstlingswirtschaft ebenfalls nicht ausstehen und verachtete alle, die mit ihrer Hilfe vorankamen. Und doch hatte er Keen wie einen Günstling behandelt. Was hätte er an Herricks Stelle getan, wenn er um einen solchen Gefallen gebeten worden wäre?
Kapitän Lapish fragte:»Wird Jobert noch mehr Schiffe unter seinem Kommando haben?«Seine Stimme klang zuversichtlicher als zuvor.
Bolitho lächelte ernst.»Hat er nicht schon genug?»
«Zwei Fregatten!«brummte Houston.»Und wir haben nur eine.»
«Meine Brigg nicht zu vergessen!«rief Quarrell.
«Heben Sie sich Ihren Kampfgeist für den Feind auf«, sagte Bolitho.»Drillen Sie Ihre Männer, bis sie halb im Schlaf zielen und feuern können. Machen Sie jedem klar, daß der Feind auch seine Schwächen hat. Wir können und müssen ihn schlagen, denn ich bin überzeugt, daß wir das einzige Hindernis zwischen Jobert und seinem Ziel darstellen.»
Das Deck neigte sich stark. Ein Buch rutschte vom Tisch.
«Kehren Sie auf Ihre Schiffe zurück«, schloß Bolitho.»Wenn es regnet, sammeln Sie Wasser zur Ergänzung der Rationen. Setzen Sie bei der Suche nach kleinen Schiffen auch die Boote ein. Unsere Leute sollen kampfbereit sein und stets mit Widerstand rechnen.»
«Leopard ist ein Dreidecker, oder, Sir?«konterte Houston.
Die unverblümte Erinnerung fuhr durch die anderen wie ein kalter Wind.
Bolitho warf Keen einen Blick zu.»Inch nahm es mit diesem Schiff und zwei Fregatten zugleich auf, Kapitän Houston. Wir mögen angeschlagen sein, aber Sie werden sehen, daß wir alle noch unseren Mann stehen!»
Nachdem die Kommandanten verabschiedet worden waren, kehrte Keen in die Kajüte zurück und fragte:»Wissen Sie eigentlich schon, was Jobert vorhat, Sir?»
«Sobald ich sicher bin, verrate ich es Ihnen, Val. Bis dahin müssen wir dafür sorgen, daß es auf unseren Schiffen weder lasch noch nachlässig zugeht. Mangelnde Wachsamkeit kann uns jetzt nur Niederlagen eintragen.»
«Der Schiffsarzt!«rief der Wachposten.
Tuson trat ein.»Sie schickten nach mir, Sir?»
«Bitte sorgen Sie dafür, daß Kapitän Inch zu uns an Bord gebracht wird. Ich fürchte, daß das Wetter umschlägt.»
Tuson nickte.»Ich sprach vorhin auf der Helicon mit ihm, Sir. Er hat starke Schmerzen.»
Als der Arzt gegangen war, trat Keen zum Kartentisch.»Verdammt, dieser Jobert kann Gott weiß wo sein. Wie eine Nadel im Heuhaufen!»
Bolitho stolperte beim Auf- und Abschreiten über einen Ringbolzen und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Wieder packte ihn die Angst. Was mochte Belinda denken? Selbst wenn Adam ihr das volle Ausmaß seiner Verwundung verschwiegen hatte, mußte sie an der Handschrift seines letzten Briefen erkennen, daß etwas nicht stimmte. Fast bereute er nun, ihr von seinen geheimsten Hoffnungen und Ängsten geschrieben zu haben, von seiner Liebe für sie, trotz allem.
Keen sagte plötzlich:»Eigentlich habe ich ja versprochen, nicht darüber zu reden, aber ich kann es nicht ertragen, Allday so niedergeschlagen zu sehen.»
«Wissen Sie denn etwas Genaues, Val?»
Keen setzte sich. Eigentlich wurde er an Deck gebraucht, aber Paget wurde inzwischen mit den meisten Aufgaben alleine fertig.
«Mein Bootsführer hat es mir erzählt, Sir. Der alte Hogg ist ein verläßlicher Bursche, und Allday zieht ihn hin und wieder ins Vertrauen. «An den Heckfenstern triefte das Wasser herunter, und Bolitho versuchte, nicht an Inch zu denken, der nun in ein tanzendes Boot hinabgelassen wurde. Ein jäher Schock konnte einen Mann in seiner Verfassung umbringen.
«Es hat den Anschein, Sir, daß Bankart annahm, Allday würde nach seiner schweren Verwundung die Seefahrt aufgeben. Er hatte von seinem sicheren Leben bei Ihnen in Falmouth erfahren und bekam Lust darauf. Der Dienst auf See scheint ihm nicht zu behagen, obwohl er sich freiwillig gemeldet hatte. «Keen schaute Bolitho von der Seite an und fragte:»Ist Bankart auch bestimmt sein Sohn, Sir?»
Bolitho lächelte.»Wenn Sie Allday vor zwanzig Jahren gekannt hätten, würden Sie mir diese Frage nicht stellen. Zumindest äußerlich ist er ihm sehr ähnlich.»
Keen stand auf, als von der Back her die Schiffsglocke schlug.»Ich werde dafür sorgen, daß er entlassen wird, wenn wir wieder in England sind.»
Bei dem Wort England blickten sie einander nicht an. Würden sie jemals seine grünen Felder wiedersehen?
«Und ich rede persönlich mit Allday, Val. Männer, die von Sorgen geplagt werden, fallen oft als erste.»
Keen hob den Kopf und lauschte. Auch Bolitho hörte draußen Hochrufe und sagte:»Gehen wir an Deck. Das wird eine Qual für Inch.»
Auf dem Achterdeck überwachte Big Harry Rooke, der Bootsmann, die Flaschenzüge, an denen Inchs Bahre an Bord gehievt werden sollte. Das Seitendeck der Helicon, die mit Schlagseite in der Düngung stampfte, war von winzigen Gestalten gesäumt, die zusahen, wie das Boot langsam und vorsichtig auf das Flaggschiff zuhielt. Bolitho zog sein Degenkoppel zurecht und drückte sich den Hut fester in die Stirn.»Lassen Sie die Ehrenwache antreten. «Er ging ans Schanzkleid und beugte sich hinaus.
Er hörte, wie sich die Seesoldaten auf Sergeant Black-burns Befehl hin aufstellten. Stahl zischte, als Hauptmann Bouteiller seinen Säbel zog. Die Bootsmannsgehilfen befeuchteten ihre silbernen Pfeifen. Dann spannten sich die Flaschenzüge, und aller Jubel verstummte.
Keens Stimme klang fest, als er rief:»Achtung an Deck! Klar zum Empfang des Kommandanten der Helicon!»
Nach dem Lärm des Zeremoniells wurde Inchs Koje schnell zur Poop getragen. Bolitho ging nebenher, ergriff Inchs Hand und sagte leise:»Willkommen an Bord, Kapitän Inch.»
Inch versuchte zu grinsen, sah aber sehr blaß und gealtert aus.»Lassen Sie mich noch einmal mein Schiff sehen«, flüsterte er heiser.
Man trug ihn zum Schanzkleid, wo Tuson ihn stützte, damit er den fernen Vierundsiebziger mit den erbärmlichen Segelfetzen erkennen konnte.
«Die alte Lady sehe ich nie wieder«, sagte Inch langsam.
Bolitho blickte der kleinen Prozession nach, bis sie vom Niedergang verschluckt wurde, und sagte:»Und wir nicht einen Mann von seinem Kaliber.»