»Ich bin Spezialist, und Sie auch«, erwiderte ich – ich wollte ihm helfen, sich selbst aus diesen Begriffen herauszuargumentieren. »Die Zivilisation kann ohne Spezialistentum nicht existieren.«
»Ich interessiere mich nicht für die Zivilisation. Wir wissen so wenig von unseren Seelen, daß wir zu Mechanik, Physik und Chemie unsere Zuflucht nehmen. Wir verlieren unsere Bewußtheit der Menschenwürde, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Sie machen aus dem menschlichen Wesen einen hochspezialisierten Steinzeitmenschen, vom Egoismus regiert. Sie schaffen ein mechanisiertes, synthetisches Leben und töten den Geist, der den Menschen über das Tier hinaushebt. Sie glauben nur an Ihre Versuchsretorten! Sie töten den Glauben! Ich bin froh, daß nur wenige Menschen wie Sie existieren! Ihre Forschungen haben Sie immer mehr rationell gemacht – bis Sie sich weigern werden, eine einzige Tatsache anzuerkennen, die sich nicht im Laboratorium beweisen läßt. Ich habe Angst, Patrick, Sie schaffen eine mechanische Seele, die die Welt zerstören wird.«
Ich hörte geduldig zu. Schratt hatte offenbar über das alles gründlich nachgedacht, und es nun auszusprechen tat ihm offenbar wohl.
»Große Mathematiker und Physiologen kommen unvermeidlich einmal zu dem Punkt«, sagte ich ruhig, »an dem ihr Verstand Dingen begegnet, die außerhalb des menschlichen Begreifens liegen – an etwas Göttliches. Sie können dem nur ins Gesicht sehen, indem sie an Gott glauben. Die meisten Wissenschaftler werden religiös, wenn sie dieses Stadium der Forschung erreichen.«
Schratt blickte mich erstaunt an. Das hätten seine eigenen Worte sein können. Als er sah, daß ich ohne Ironie gesprochen hatte, nickte er, doch immer noch zweifelnd – er mißtraute mir als einem Konvertiten, der sich seiner Philosophie zugewandt hatte.
»Wie dem auch sei«, begann ich sofort wieder – ich fühlte seinen Verdacht, daß ich ihn betröge –, »um zu diesem Stadium der Unterwerfung unter das große heilige Unbekannte zu gelangen, muß der Mensch erst die ganze Sphäre durchwandeln, die zu erforschen er fähig ist. Irgendwo, wo unsere Intelligenz ihre Ganzheit hat, endet die Straße unserer Forschungen. Wir umgaukeln das Unbegreifliche, um beim Konkreten anzugelangen. Wir gebrauchen ein Symbol für das Unendliche, teilen es durch konkrete Begriffe, fügen ein Plus, ein Minus hinzu, als könnten wir die Gewalt des Grenzenlosen sichtbar machen. Wir benützen das Unendliche, als sei es greifbar. Aber niemand versteht seine Natur. Wir durchdringen Regionen, die jenseits unseres Verstandes liegen, und kehren mit Lösungen unserer Probleme zurück. Wem tun wir weh? Niemandem, nicht einmal uns selbst! Ich kann meine Forschungen nicht aufgeben, weil mich die Furcht davon abhält weiterzugehen. Am Ende der Straße, die ich wandere, steht Gott, der nicht in Formeln, sondern in einsilbigen Worten spricht. Ich möchte dicht genug bei ihm stehen, um sein Ja oder Nein zu hören!«
Schratt sah mit abwesenden Augen durch mich hindurch.
»Die Erlösung wird durch Taten verdient, nicht durch Verneinung«, schloß ich.
Ich schritt zur Tür und wartete.
Ich hörte Schratt murmeln, und nach einer Minute kam er aus seinem Zimmer. Er folgte mir ins Laboratorium, immer noch zweifelnd und in Abwehrstellung. »Was wollen Sie mir zeigen?«
»Das Hirn hat Verbindung mit mir«, sagte ich. Ich führte aus, wie der Auslöser angeschlossen war. Das Hirn schlief, die Lampe war dunkel.
Ich klopfte an das Glasgefäß, und die Lampe begann zu glühen.
Schratt stand und starrte auf die elektrische Birne – er wollte nicht zeigen, wie sehr er von mir zu hören wünschte, auf welchem Wege ich das zustandegebracht hatte.
Ich erzählte ihm, wie ich mich mit dem Hirn in Verbindung gesetzt und ihm das Morse-Alphabet beigebracht hatte. Schratt hörte zu und regte sich nicht, wie ein Mensch, der vor etwas Übernatürlichem steht.
Ich klopfte an das Glas und befahl dem Hirn, an einen Baum zu denken, dreimal.
Das Enzephalogramm zeigte unmißverständlich kongruente Kurven und wiederholte sie dreimal.
Schratt sank auf mein Bett und nickte. Er vergaß seinen Entschluß, sich nicht für das Experiment zu interessieren. Er starrte voll Ehrfurcht auf das Gefäß, die Instrumente, den Enzephalographen. Schratt ist ein Genie. Er hat noch niemals das Zeugnis seiner Augen angezweifelt. Nur ein außerordentlicher Geist kann etwas Neues auf einmal begreifen. Er tat es. Er begriff.
Auch ich setzte mich. Ich gab ihm Zeit, mit seiner Erregung fertig zu werden. Endlich stand er auf, ging hinüber zu dem Gefäß und fuhr vorsichtig mit seinem dicken Zeigefinger an der elektrischen Verbindung zum Enzephalographen entlang. Als die Birne plötzlich aufglühte, nickte er und murmelte etwas. Sein rauhes, gedunsenes Gesicht leuchtete von einem inneren Schein.
»Das Hirn lebt«, sagte er, als habe er eine kosmische Wahrheit entdeckt. »Kein Zweifel – es lebt! Wir müssen einen Weg finden, seine Botschaften entgegenzunehmen.«
Er setzte sich schwerfällig nieder, die Augen halb geschlossen, und dachte nach. Er schien durchaus nicht entmutigt durch die Hoffnungslosigkeit der Aufgabe, die er sich gestellt hatte.
Er ließ den Papierstreifen durch seine Finger laufen und prüfte ihn genau. »Alpha-, Beta- und Delta-Frequenzen«, sagte er. »Aber sie sind nicht zu entziffern.«
Er ließ den Streifen fallen und gab die Idee auf, die Kurven zu lesen. »Es gibt keine Möglichkeit, den Kode hierfür zu finden«, sagte er endlich. »Sie haben es versucht, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Sie haben einen falschen Weg eingeschlagen«, sagte er, »und Sie wußten es ...«
Ich versuchte, meine Theorie zu verteidigen, damit er beweisen mußte, daß ich unrecht hatte.
»Wenn man jede Gedankenwelle auf dem Papierstreifen registriert«, sagte ich, »und sich mit den Kurven vertraut macht, müßte man fähig sein, das Enzephalogramm von Donovans Hirn mit dem eigenen Gedankenwortschatz zu vergleichen. Angenommen, ich registriere mein Enzephalogramm des Wortes ›Pferd‹. Müßte dann nicht Donovan, wenn er dasselbe Wort denkt, die gleiche Kurve produzieren? Wenn ich nun die Kurven vergliche, könnte ich dann nicht die Bedeutung herauslesen? Warum könnten wir nicht auf ähnliche Art die Botschaften von Donovans Hirn dechiffrieren? Tonwellen und Gehirnwellen zeichnen sich ähnlich ab. Gehirnwellen bewegen sich zwischen 1/2 und 60 Schwingungen pro Sekunde, Tonwellen zwischen 10 und 16 000. Der Ton hat größere Variationen als der Gedanke.«
Ich wußte, daß ich unrecht hatte, aber ich wollte hören, wie er die Theorie widerlegte.
Schratt schüttelte den Kopf. »Eine Tonwelle hat eine feste Frequenz, die Gedankenwellen aber sind bei jedem Individuum verschieden. Mein Hirn produziert nicht die gleichen Wellen wie das Ihre, und sogar der täglich wechselnde Gesundheitszustand beeinflußt die mikrovoltische Leistung der Zellen. Der Fluß einer jeden Idee ist abhängig von der Mikro-Spannung, die das Hirn produziert, und diese wechselt von Minute zu Minute. Sie wechselt, wenn man sich aufregt, wenn man krank, wenn man gesund ist. Nein! Wir müssen die Theorie aufgeben, das Enzephalogramm wie eine telegrafische Meldung zu lesen!«
Er hatte recht. Aber welche andere Möglichkeit gab es?
»Wir könnten höchstens versuchen, uns auf telepathischem Wege mit ihm in Verbindung zu setzen«, überlegte er.
Ich war erstaunt über ihn. Ich hätte eine so wenig orthodoxe Methode nie erwogen – mich einem unbekannten Medium zu nähern, indem ich ein unbekanntes Mittel gebrauchte.
Ich mußte wohl mißbilligend den Kopf geschüttelt haben, denn er fuhr fort: »Warum nicht? Lassen Sie uns diese Idee a priori benützen, wir können nicht auf das langsame Zusammentragen experimenteller Beweise warten! Das Hirn produziert Mikro-Kurzwellen. Die umgebende Luft ist ständig elektrisch geladen – mit 9000 Frequenzen. Unsere Hirnwellen senden Schwingungen aus, die das elektrische Feld der Atmosphäre stören, die ihrerseits die Wellen zum Empfänger trägt. Das denkende Hirn ist ein Sender, das andere Hirn ein Empfänger.«