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»Sie beurteilen ihn zu hart«, sagte ich. Ich ahnte Komplikationen.

»O nein!« Sternli nahm die Gläser ab und reinigte sie sorgsam mit einem Stück Wildleder, wobei er sie ab und zu dicht vor die Augen hielt. »W. H. war mein ganzes Leben. Wie könnte ich hassen, wovon ich ein Teil gewesen bin? Als mich W. H. entließ, hatte ich nichts, wofür ich leben konnte. Ich habe keine Familie, nicht einmal einen Freund. Um sich Freunde zu machen, muß man tolerant und interessiert sein, und mit fortschreitendem Alter werden wir immer weniger anpassungsfähig. Man muß geben, um sich Freunde zu erhalten – und mein Vorrat ist erschöpft. Es gibt zwei Arten von Menschen – die schöpferischen und die nachahmenden. Ich gehöre zu den letzteren. Und solche Menschen sind sehr unfruchtbar – wenn nicht von außen her eine Beeinflussung kommt.«

Er sprach ruhig. So war seine Philosophie; er sprach sie ohne Bitterkeit aus.

»Ein Verlag ist an mich herangetreten, ob ich nicht ein Buch über W. H. schreiben will – er bietet mir dafür eine große Summe. Ich hätte das Geld für die Zukunft bitter nötig, mein Gehalt war zu klein, als daß ich hätte sparen können.«

Sternli sprach eifrig. Er fühlte, daß meine Beziehung zu Donovan enger war, als das Ergebnis des einen unglücklichen Zusammentreffens. Er konnte das Band zwischen seinem früheren Herrn und mir nicht erkennen, aber er fühlte sich gezwungen, mit mir zu reden, um viele ungesprochene Worte endlich einmal loszuwerden.

Zu Donovan hatte er nie gesprochen wie jetzt zu mir. Seine natürliche Schüchternheit und die Furcht vor seinem Herrn hatten ihn daran gehindert. Doch jahrelang hatte Sternli im Herzen gehofft, daß er eines Tages den Mut finden würde, zu ihm zu sprechen wie ein Mann zum anderen. Der Tag kam nie.

Nun war mit Donovans Tod diese Hoffnung gestorben, aber mit mir zu sprechen bedeutete für ihn die Beichte von Verbrechen, bei denen er – wenn auch nur als Werkzeug seines Herrn – irgendwie der Sünder war.

Er erzählte mir seine Lebensgeschichte, die typisch war für einen zurückgezogenen, nachdenklichen Menschen, der sich von der Welt abschloß.

Sternli hatte Donovan in einem Maße verehrt, daß diese Verehrung seine eigene Persönlichkeit zerstörte. Donovan hatte diese Ergebenheit hingenommen und ohne jede Skrupel den größtmöglichen Vorteil aus diesem Mann gezogen, der kein eigenes Leben leben konnte oder leben wollte.

Sternli hatte Donovan in Zürich getroffen, wo er Sprachen studierte. Als er den Millionär zum erstenmal sah, natürlich im teuersten Hotel, war der Student sofort fasziniert durch seine mächtige Persönlichkeit. Er war an einem Nachmittag ins Baur-au-Lac-Hotel gegangen, bloß um einmal zu sehen, wie die Reichen dieser Welt lebten. Während er langsam seinen Kaffee trank, hörte Sternli Donovans dröhnende Stimme nach jemand rufen, der ihm ein paar Telegramme ins Portugiesische übersetzen konnte. Er hörte auch, wie der erschrockene Portier sich entschuldigte.

In einem seltenen Anfall von Mut, der den Wendepunkt seines Lebens kennzeichnete, bot Sternli seine Dienste an.

Donovan behielt ihn um sich, während er in Zürich war, und als er abreiste, bot er ihm an, ihn als Sekretär zu begleiten. Der junge Mann stürzte sich auf die Gelegenheit, die Welt zu sehen.

Sternli wurde Donovans Schatten, Teil von ihm wie ein Paar Brillengläser. Er schlief Tür an Tür mit Donovan, folgte ihm von Konferenz zu Konferenz, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent. Als Donovans Sekretär, Briefschreiber, Dolmetscher (doch niemals als sein Freund) wuchs Sternli in seine Stellung hinein, er wurde das lebende Gedächtnis der komplizierten Maschinerie, die Donovans Hirn war.

Er nahm niemals Urlaub. Er hätte nicht gewußt, was er mit sich selbst anfangen sollte. Nur einmal, als seine Mutter gefährlich erkrankte, bat er um einen kurzen Urlaub, um sie zu besuchen. Zögernd willigte Donovan ein, und als Sternli ihn um Geld für seine Europareise bat, ließ ihn Donovan einen persönlichen Schuldschein auf fünfhundert Dollar unterzeichnen.

Als Sternli seine Geschichte erzählte, unterschlug er einen Abschnitt seines Lebens. Ich konnte nur erraten, was er zu verbergen wünschte.

Er hatte einmal geliebt. Und wie das Schicksal ironisch wollte – er liebte Donovans Frau, Katherine. Sie muß eine schöne Frau gewesen sein, zurückgezogen und unglücklich. Sie ermutigte den schüchternen jungen Mann nicht; ich glaube, wahrscheinlich ahnte sie gar nichts von seiner heimlichen Anbetung.

Eines Tages konnte der ehrliche Sternli den Konflikt nicht mehr ertragen, der sein Gewissen zerriß. Er hatte das Gefühl, nicht ehrlich zu arbeiten, und es erschien ihm wie ein Treubruch, daß er die Frau seines Brotgebers liebte. Und so bat er Donovan, ihn von seinen Pflichten zu entbinden.

Donovan bot Sternli sofort eine Gehaltserhöhung an. Unzufriedenheit ließ sich immer durch Geld kurieren! Aber Sternli begann zu berichten.

»So, so ... Sie lieben Katherine?« sagte Donovan ruhig. »Und was meint sie dazu?«

Natürlich hatte Sternli nie ein Wort darüber zu Frau Donovan gesagt. Sich in eine verheiratete Frau zu verlieben, hieß für ihn bereits, Gottes Gebote offenkundig zu verletzen.

»Wenn Sie es ihr nicht gesagt haben, so liegt doch kein Grund vor, fortzugehen«, sagte Donovan nüchtern. Er fügte hinzu: »Und auch kein Grund, Ihr Gehalt zu erhöhen.«

Mit dieser Entscheidung hatte Donovan den Zwischenfall zu seiner Zufriedenheit geregelt. Sternli blieb. Die Entscheidung war für ihn getroffen worden, sogar in diesem intimsten und wichtigsten Bereich seines Lebens, in der Liebe. Das machte ihn noch abhängiger.

Wenige Monate später starb Katherine Donovan.

Während seiner ganzen Erzählung machte Sternli nicht den Eindruck, ein von Natur mitteilsamer Mensch zu sein. Er berichtete einfach Tatsachen, ohne daß auch nur einmal seine Stimme bebte. Nur manchmal, wenn er eine ernste Enthüllung unterstreichen wollte, lächelte er, nahm seine Brille ab und putzte sie sorgsam.

Er sprach weiter, ruhig und bescheiden. Er wünschte mir näher zu kommen – und das gelang ihm durch seine Geschichte.

Ich bin sicher, er wußte nicht, warum er sein Herz einem Fremden öffnete, um seine Lebensgeschichte herunterzubeten – aber langsam nahmen seine und Donovans Gestalt Leben und Farbe an. Indem ich Sternli zuhörte, erfuhr ich mehr über Donovan als über Sternli selbst. Es interessierte mich sehr. Diese Seite hatte ich völlig übersehen. Donovans Geschichte, die in den Zeitungen stand, war übertrieben, gefälscht, auf Journalismus zurechtgemacht. Hier aber entfaltete sich seine wahre Natur.

Ich fing an, die Arbeit des Hirns zu verstehen. Wenn ich Donovans Charakter gründlich erforschte, jede Regung seiner Gefühle kannte, jede Reaktion seines Bewußtseins, so konnte ich auch viele Widersprüche des Hirns verstehen.

Ich drängte Sternli, fortzufahren. Wie ein guter Psychoanalytiker versuchte ich zu lesen, was sich hinter den Worten verbarg. Die Teile, die er unbewußt verheimlichte – weil sie ihm nicht von Wichtigkeit schienen – fügte ich zusammen, um sie in das riesige Puzzle-Bild eines mächtigen Mannes einzufügen, der jeden Gewissensbiß und jeden Schwächeanfall in einem schmetternden Angriff auf seinen Gegner überwindet, der wie ein Boxer wütend angreift, wenn er in die Ecke gedrängt ist.

Sternli war ein idealisiertes Bild Donovans. Er war gegen die Fehler seines Herrn blind. Er ahnte nicht einmal, wie dieser Mann das Gefüge seines Lebens zerstört hatte – raffiniert, geduldig und gründlich.