Aus der Hotelhalle rief ein Herr Pulse an. Fuller hatte ihn zu mir geschickt. Er meinte, es wäre angenehmer, in meinem Zimmer zu sprechen – dürfte er heraufkommen?
Ich bat ihn zu warten, ließ mir den Friseur schicken und genoß den Luxus, gut rasiert zu sein. Dann kleidete ich mich an und betrachtete mich im Spiegel – zum erstenmal seit Monaten entspannt.
Plötzlich wurde mein Spiegelbild ein durchsichtiger Schemen. Das Empfinden dauerte nur einen Augenblick, dann aber ergriff Donovans Hirn stärker denn je von mir Besitz.
Ich starrte in den Spiegel und sah mich durchdringend, von Kopf bis Fuß, an, als hätte ich noch nie mein Spiegelbild gesehen. Ich atmete tief, bewegte die Schultern, ohne tatsächlich meines Körpers gewahr zu sein. Dann kniff ich mich ins Handgelenk, und die Haut rötete sich, ohne daß ich einen Schmerz fühlte.
Ich ging durch das Zimmer, aber nicht mit meinem eigenen Gang, sondern mein rechtes Bein leicht nachziehend, holte mir eine der Upman-Zigarren und fing an, sie zu rauchen.
Wie immer wußte ich, was ich tat, aber zum erstenmal war ich ein Gefangener in meinem eigenen Körper, ohne die Möglichkeit, etwas anderes zu tun als das, was mir befohlen wurde.
Ich rief mir alle Stadien wieder vor Augen, die ich während des Experimentes mit Donovans Hirn durchgemacht hatte. Zuerst hatte ich mich auf Donovans Befehle konzentriert, mich selbst gezwungen, ihn zu verstehen. Während der zweiten Phase konnte ich die Befehle leicht deuten, ich handelte ihnen entsprechend. Schließlich hatte ich dem Hirn erlaubt, meinen Körper zu beherrschen.
Und jetzt war ich nicht mehr imstande, Widerstand zu leisten. Ich hatte völlig die Oberhand verloren.
Das Hirn konnte meinen Körper vor einem Wagen laufen und ihn aus dem Fenster springen lassen, konnte ihm mit meinen eigenen Händen eine Kugel durch die Schläfe schießen. Ich konnte in der Hoffnungslosigkeit meines Kerkers nur noch aufschreien, aber selbst die Worte, die mein Mund formte, waren diejenigen, die das Hirn zu hören wünschte.
Eine Welle des Entsetzens verschlang mich fast, als mir klar wurde, daß ich wie ein Mann war, der an eine Maschine gebunden ist, die seine Hände und Füße gegen seinen Willen bewegt.
Das Gefühl der Angst verging. Ich war wieder frei. Ich fühlte den Rauch der Zigarre in meinem Mund, obwohl ich ihn nicht schmeckte. Ich hinkte nicht mehr. Der dumpfe Druck in der Nierengegend hörte auf – als erholte ich mich gerade von einem Anfall von Nephritis und Anurie.
Wenn Donovans Hirn von meinem Nervensystem Besitz ergreift, stellt es die Bedingungen seines Körpers wieder her – die Schmerzen in den Nieren, das Hinken, die gleichen Neigungen und Abneigungen beim Essen und beim Tabak. Vielleicht verfällt es bald wieder dem Trunk!
Plötzlich erinnerte ich mich, daß ein gewisser Herr Pulse auf mich wartete, und telefonierte hinunter zum Empfangsbüro, er möge heraufkommen.
Ein paar Minuten später trat ein riesiger Mann ein, der den Türrahmen ausfüllte mit seiner mächtigen Gestalt. Er war fast zwei Meter groß, trug das Haar wie ein Musiker in einer Viktorianischen Komödie, und sein fettes Gesicht ruhte auf dem Kissen eines Doppelkinns. Er sah mich freundlich an – seine Augen waren vorstehend, wie man das oft bei Basedow-Fällen findet.
Er stellte sich vor und schwankte wie ein Nilpferd ins Zimmer; als er sich setzte, verschwand der Stuhl unter ihm.
Er kam sofort zur Sache.
»Hinds wird nächste Woche abgeurteilt«, sagte er. »Ich habe den Fall studiert.«
Ich hatte Mühe, ihn zu verstehen, denn seine Stimme stand im grotesken Gegensatz zu seiner massigen Gestalt – er flüsterte dünn, als habe er Furcht, belauscht zu werden. Seine hypertrophischen Schilddrüsen verursachten einen Druck auf die rückläufigen Kehlkopfnerven, und dadurch bekam seine Stimme diesen Tonfall.
Er breitete seine Neuigkeiten aus: »Die Geschworenen sind meistens beeinflußt durch den Eindruck, den sie vom Angeklagten bekommen, weniger von den wirklichen Tatsachen des Falls an sich. Ein Mann mit guten Manieren kann für das gleiche Verbrechen eine leichtere Strafe bekommen als ein anderer – wie zum Beispiel Hinds –, der keinen Wert darauf legt, einen sympathischen Eindruck zu machen. Ich bin nur froh, daß wir keine Frauen unter den Geschworenen haben – sie lassen sich meistens durch ihre Gefühle leiten.«
Nicht ein Muskel seines fetten Gesichtes änderte sich, aber er machte kleine Handbewegungen, um seinen Mangel an Lebhaftigkeit auszugleichen.
Pulse schien den Fall gründlich studiert zu haben, und er entwarf rasch einen Plan zur Rettung Hinds'. Nicht ein einziges Mal erwähnte er Fuller.
Dreihundert Namen wahlfähiger Geschworener, erklärte er, standen auf der Liste, die im Gerichtsgebäude ausgehängt war. Von diesen dreihundert Bürgern würden mehr als zweihundert keinen Wert darauf legen, als Geschworene zu amtieren. Diese konnte man von vornherein ausschalten.
Die übrigen mußten überprüft werden.
Pulse klappte eine Aktentasche auf und zog eine Liste heraus.
»Wissen Sie«, flüsterte er tonlos, »ich habe für die Southern Tramway gearbeitet. Wir hatten die genauesten Informationen über jeden Geschworenen. Es werden zu viele ungerechte Forderungen an die großen Gesellschaften gestellt – meistens Ansprüche aus Unglücksfällen –, und wenn sich dann unter den Geschworenen ein Freund des Klägers befinden sollte, könnte viel Schaden entstehen! Darum hatten wir Listen über jeden –«, er lächelte und zeigte kleine weiße Frauenzähne, »oder wenigstens fast jeden Menschen!«
»Arbeiten Sie noch für die Southern Tramway?«
»O nein! Das wird zu schlecht bezahlt. Aber ich habe eine Abschrift von ihrer Kartothek.«
Er hatte bereits festgestellt, wie viele nicht willens waren, in Hinds' Fall als Geschworene zu fungieren. Die übrigen hatte er aufgeschrieben: siebenundsechzig Namen.
Unter ihnen waren achtundzwanzig Geschäftsleute im Ruhestand, pensionierte kleine Magistratsbeamte, Militärs a. D. – alle gern bereit, für drei Dollar pro Tag zur Verfügung zu stehen.
»Der öffentliche Kläger liebt diese Art Menschen. Sie kennen den gewohnheitsmäßigen Gang, und der Verteidiger kann sie nicht erschüttern. Wir kennen sie auch alle. Nun, sie lassen mit sich reden!«
Kleine Schweißtropfen standen auf Pulses Stirn, und seine Stimme wurde noch leiser.
»Die übrigen aber erfordern ernstliche Bearbeitung! Ich kann nur ein paar der Namen in meiner Kartothek finden und muß meine Leute herumschicken, um mich über die privaten Affären dieser eventuellen Geschworenen zu unterrichten. Die meisten Leute haben etwas in ihrem Leben ... nun, etwas, was sie verbergen möchten!«
Seine vorstehenden Augen entdeckten plötzlich die Zigarren auf dem Tisch, ein aufflackerndes Interesse flog über sein Gesicht.
»Upmans!« rief er aus.
»Bitte bedienen Sie sich!« sagte ich. Sofort schoß seine Hand heraus. Zum erstenmal zeigte er sich bewegt! »Upmans!« wiederholte er. »Einen Dollar pro Stück!« Und dann fuhr er im gleichen unpersönlichen Ton fort, aber seine Haltung war herzlich.
»Hier ein Beispieclass="underline" Kürzlich hatten wir einen Geschworenen – er war uns neu –, einen Leichenbestatter; verheiratet, rund fünfzig. Er hatte eine hübsche Sekretärin, die ihm half, seine Dekorationen zu besorgen. Wir entdeckten sein persönliches Interesse für dieses Mädchen. Ach ja – er war nicht wenig erschrocken, als wir ihm sagten, was wir wußten. Er wäre unglücklich gewesen, wenn die Verteidigung von dieser Affäre etwas erfahren hätte. Also steckte er unsere Zweitausendfünfhundert ein – und wir hatten ›eine Pille in der Schachtel‹!«
Genießerisch sog er den Rauch ein.
»Eine ›Pille in der Schachtel‹ ist ein Geschworener, der auf seiten des Verteidigers ist«, erklärte er. »Das bedeutet nicht, daß der Geschworene bestochen ist; aber manchmal ist er mit sich selbst nicht einig, wie er stimmen soll ... und dann hilft ihm das Geld, sich zu entscheiden. Es hindert ihn auch daran, einen Unschuldigen zu verdammen und sich so eines Justizmordes mitschuldig zu machen.«