Sie war aufgeregt. Ihre Augen mit den geweiteten Pupillen waren leer. Die Welt ließ kein Bild auf ihrer Netzhaut zurück, und sie lauschte einer Stimme, die nur sie vernehmen konnte.
»Sie gaben Fuller den Auftrag, Cyril Hinds zu verteidigen, aber Sie wissen nicht warum!« sagte sie in stillem Triumph. Und plötzlich lachte sie irr. Ich erwartete einen zweiten Anfall, aber er kam nicht. »Mein Vater möchte Cyril Hinds vom Strick des Henkers retten, um dem Tode ein Leben zu entreißen, als Austausch für ein Leben, das er in den Tod trieb! Wie man eine Büchse Fleisch gegen eine andere austauscht, oder wie man zehn Dollar zurückzahlt, die man sich geborgt hat! Als ich sieben Jahre alt war, gab er mir eine Lektion fürs Leben – seine Philosophie in wenige Worte zusammengefaßt: In dieser Welt ist der Kampf um das Geld der Kampf um das Leben. Der Reiche lebt ein konzentriertes Leben, das vielen anderen Leben entspricht. Mit bezahlten Helfern, Sklaven, Dienern, Sekretären, Schmarotzern bringt er in kurzer Zeit zustande, wozu der Arme mindestens ein Jahr braucht. Das Leben des Reichen ist hundertmal so lang als das des Armen. Mit Geld lebt man länger als die andern. Geld ist das Leben selbst –«
Ich wußte, warum sie mich so dringend sprechen wollte. Meine seltsame Handlung gestern abend hatte sie überzeugt, daß ich ihr vom Schicksal gesandt sei.
Ihr Leben lang hatte sie unter der Tyrannei ihres Vaters gelitten und auf die Jahre seines Abstiegs gewartet. Doch er hatte sich ihr durch einen plötzlichen Tod entzogen. Sie wollte einfach nicht glauben, daß er mit dem Leben fertig sei. Sie wollte, daß er wiederkehre! Sie wußte nichts, gar nichts vom künstlichen Leben des Hirns – aber sie fühlte, daß irgend etwas geschehen war.
Ich bewegte meine rechte Hand, biß mich auf die Lippen und spürte den Schmerz. Also saß ich selbst hier, nicht Warren Horace Donovan.
»Meines Vaters richtiger Name war Dvořak. Er kam aus einer kleinen Stadt in Böhmen, im Jahre 1895. Er änderte seinen Namen in Donovan, lebte in San Juan und arbeitete in einer Eisenwarenhandlung.
Meine Mutter, Katherine, war die Tochter des Inhabers, und der beste und einzige Freund meines Vaters war Roger Hinds, der Bahnhofsvorsteher.«
Chloe berührte immer noch meine Hand, als brauche sie diesen Kontakt. Plötzlich sah sie mich an und sagte mit klarer Stimme: »Ich habe niemals zu jemandem über Roger Hinds gesprochen, seit meine Mutter mir von ihm erzählt hat. Nicht einmal Howard weiß es. Ich behielt das Geheimnis für mich, weil ich meine Mutter liebte, niemanden sonst in meinem ganzen Leben! Und nur ich und Roger Hinds haben sie geliebt!«
Sie sprach mit unleugbarer Überzeugung.
Ich unterbrach sie. Ich wollte nicht, daß sie sich in Erinnerungen verlor, die zu einer gefährlichen Besessenheit geworden waren.
»Eine Kiste großer Klappmesser lag unbestellbar auf der Station. Ihr Vater kaufte sie und verkaufte die Ware an die Farmer, und das war der Anfang seines Versandunternehmens. Ich habe davon gelesen.«
Sie nickte. »Was aber nicht in den Zeitungen stand, war das: Er legte den Grundstein zu seinem Unternehmen mit Geld, das er sich von Roger Hinds borgte, von dem Mann, den meine Mutter liebte!«
Sie sprach mit plötzlich überquellender Entrüstung, als sei es ihr eigener Liebster gewesen, nicht der ihrer Mutter.
»Roger bewunderte meinen Vater, und mein Vater kannte seine Macht über Roger. Eines Tages bat er ihn, um ihn zu ruinieren, um eine Summe Geldes, die Roger nicht besaß – was er genau wußte.«
»Achtzehnhundertunddreißig Dollar und achtzehn Cent«, sagte ich mit flacher Stimme. Chloe nickte ungeduldig, ohne sich über mein unheimliches Wissen zu wundern.
»Das kann sein. Roger nahm es aus der Stationskasse, als mein Vater ihm versprach, es ihm am nächsten Tage zurückzugeben. Er vertraute meinem Vater so blind, daß ihn nicht das geringste Schuldgefühl bedrückte. Und um Roger Hinds zu vernichten, hielt mein Vater das Geld absichtlich zurück!«
Ihre Stimme war so entsetzt, als habe sich das alles erst gestern zugetragen, nicht vor vierzig Jahren.
Sie hatte ihre Lebenskraft aus dem Entschluß gezogen, ihre Mutter zu rächen. Da nun ihr Vater gestorben war, hatte sie nichts mehr, wofür sie leben konnte. Sie wollte nicht an seinen Tod glauben. Sie wartete auf ein Wunder, bereit, Zuflucht in einer Welt zu suchen, die der unsern fern ist. Selbstmord verlangt Plan und Entschluß; in die Unwirklichkeit der Traumwelt zu treiben, erfüllt den gleichen Zweck, und ist leichter und angenehmer.
Ich mußte vorsichtig sein – sie durfte sich nicht zu sehr aufregen über diese Geschichte, die sie mit so viel Überzeugung erzählte.
»Sind Sie denn sicher, daß er es absichtlich tat?« fragte ich.
»Absolut!« sagte Chloe nachdrücklich. In ihrer Seele war kein Raum für den kleinsten Zweifel.
»Mein Vater wollte heiraten – und fand den Weg dazu durch Roger versperrt. Das war ein Schlag für sein Selbstbewußtsein! Was und wer immer ihm in den Weg trat, mußte vernichtet werden! Er liebte Roger, soweit er fähig war, jemanden zu lieben. Er hatte ihn wirklich gern, aber zu seiner Empörung war Roger auf etwas aus, was er selbst wollte! Und Donovan fühlte sich betrogen.«
Nach Chloes Erzählung hatte Donovan das Geld absichtlich zurückgehalten, bis eine Kassenprüfung den Fehlbetrag aufdeckte. Hinds verlor seine Stellung, und dann gab ihm Donovan das Geld zurück. Er ließ Roger eine Quittung unterschreiben, aus der hervorging, daß er, Donovan, es war, der seinen Freund vor dem Gefängnis gerettet hatte. Als Hinds sich von dem Schlag erholte, schoß er auf Donovan, dessen Wange nun auf immer durch die Narbe gezeichnet war. Dann ging er verzweifelt fort und erhängte sich. Er hatte Katherine nichts gesagt. Er schämte sich über den Verrat seines Freundes.
Nach ein paar Monaten heiratete Katherine Donovan. Sein ständiges Werben hatte ihren Widerstand gebrochen. Sie verließen sogleich die Stadt und ließen sich in Los Angeles nieder.
Nach einiger Zeit erfuhr sie die Wahrheit. Donovan erzählte sie ihr mit voller Absicht, als er merkte, daß sie Roger immer noch liebte. Von diesem Augenblick an hielt er sie nur noch durch Angst. Er zwang sie, ihm Kinder zu gebären. Katherine war ein Stück seines Besitzes – sie durfte ihn nicht verlassen. Er ertrug es nicht, etwas zu verlieren, was ihm einmal gehört hatte.
Die Frau führte ein Schattendasein, ihr Geist war gebrochen. Ihre einzige Vertraute war ihre Tochter, und sie nährte den Haß des Kindes gegen den eigenen Vater.
Mehrere Kinder Katherines – in Abscheu und Ekel gezeugt – wurden tot geboren. Nur Howard, das erste, und Chloe, das letzte, blieben am Leben. Howard wurde unter der Faust seines Vaters fast erdrückt – niemals durfte er etwas tun, was ihm sein Vater nicht befohlen hatte. Der Sohn bekam kein Taschengeld, und auch seine Frau und Chloe hatten nie bares Geld in der Hand. Geld ist Freiheit – es macht die Menschen unabhängig!
Howard bekam keinen Hausschlüssel. Er mußte an der Haustür läuten wie ein Händler, und die Dienstboten kontrollierten sein Kommen und Gehen. Sie wagten nicht, den Jungen zu decken, denn auch sie wurden durch einen Stab von Hausspitzeln beobachtet.
Donovan war allgegenwärtig. Er benützte alle Augen und Ohren für seine Informationen. Wer immer für Donovan arbeitete, mußte seine Persönlichkeit völlig aufgeben.
Als Howard fünfzehn war, fing er an, Marken zu sammeln. Um sich das Geld zum Einkauf zu beschaffen, stahl und verkaufte er kleine Gegenstände aus dem Haus des Vaters – Schmucksachen, Silber, Löffel und Bücher.
Donovan mißgönnte seinem Sohn das Interesse an diesen bunten Papierstückchen, aber er duldete es, weil ihn der Junge überzeugte, er vergrößere die Sammlung durch klugen Markenhandel.
Als Howards Interesse in seinem Vater Eifersucht erweckte, begann er einen Wettbewerb in dieser Liebhaberei seines Sohnes und kaufte sich selbst eine kostspielige Sammlung.