Ich räumte die Geschäftsbücher wieder an ihren Platz und sah auf die Uhr. Noch siebzehn Minuten. Ich legte den Bleistift zurück, faltete die Liste mit den Pferdenamen zusammen und steckte sie in meinen Geldgürtel. Dessen Fächer füllten sich wieder mit Fünfpfundnoten, da ich von meinem Lohn wenig ausgegeben hatte, doch der Gürtel lag immer noch flach und unsichtbar unter dem Hosenbund, und ich hatte darauf geachtet, daß den Jungs das Versteck verborgen blieb, damit ich nicht bestohlen wurde.
Ich blätterte rasch die gesammelten Zeitungsausschnitte und Fotos durch, fand aber nichts über die elf Pferde und ihre Erfolge. In den Rennkalendern immerhin war Superman bei dem Verkaufsrennen am zweiten Weihnachtsfeiertag mit Bleistift angekreuzt, doch in Sedgefield, wo das nächste Verkaufsrennen anstand, war es auch damit wieder nichts.
Ganz hinten im Fach mit den Quittungen machte ich den größten Fund. Dort lag ein weiteres blaues Geschäftsbuch, in dem jedem der elf Pferde eine Doppelseite gewidmet war. Zwischen den elf siegreichen waren neun andere dokumentiert, die auf irgendeine Art ihren Zweck nicht erfüllt hatten. Dazu gehörte Superman, und dazu gehörte Old Etonian.
Auf der linken Seite war jeweils die gesamte Rennlaufbahn der Pferde nachzulesen, und auf der rechten standen bei meinen elf alten Bekannten genaue Angaben zu dem Rennen, das sie mit Unterstützung gewonnen hatten. Die darunter angeführten Summen hatte Humber vermutlich dabei verdient. Es waren jeweils Tausende. Auf Supermans Seite hatte er geschrieben:»Verlust 300 Pfund«. Auf der rechten Seite für Old Etonian stand kein Rennachweis, sondern nur das Wort» Getötet«.
Alle Seiten bis auf die für ein Pferd namens Six-Ply waren durchgestrichen, und am Schluß waren zwei Doppelseiten neu angelegt, eine für Kandersteg, eine für Starlamp.
Die linken Seiten für diese drei Pferde waren ausgefüllt, die rechten leer.
Ich klappte das Buch zu und legte es wieder an seinen Platz. Es war höchste Zeit zu gehen, und nachdem ich mich mit einem Blick vergewissert hatte, daß alles genauso war wie vorher, schlüpfte ich unbemerkt zur Tür hinaus und ging in die Küche, um zu sehen, ob die Jungs mir wie durch ein Wunder einen Happen übriggelassen hatten. Fehlanzeige.
Am nächsten Morgen verschwand Jerrys Pferd Mickey vom Hof, während wir mit dem zweiten Lot unterwegs waren, doch Cass erzählte Jerry, Jud habe Mickey zu einem Bekannten Humbers an die Küste gefahren, damit er zur Kräftigung der Beine im Meerwasser planschen könne, und er werde am Abend zurückgebracht. Doch der Abend kam und Mickey nicht.
Am Mittwoch ließ Humber wieder ein Pferd starten, und ich verzichtete auf mein Mittagessen, um mich in seinem Haus umzusehen, solange er fort war. Durch einen geöffneten Luftschacht kam ich zwar leicht hinein, aber ich fand keinerlei Hinweis darauf, wie die Pferde gedopt wurden.
Den ganzen Donnerstag machte ich mir Gedanken darüber, daß Mickey noch an der Küste war. An sich schien das ganz in Ordnung. Warum sollte ein Trainer, der zwanzig Kilometer von der Küste entfernt wohnte, die Möglichkeit nicht nutzen? Seewasser tat Pferdebeinen gut. Aber manchmal geschah bei Humber mit Pferden etwas, das ein späteres Doping ermöglichte, und ich hatte den überaus unangenehmen Verdacht, daß es bei Mickey gerade soweit war und ich die einmalige Chance verpaßte, der Sache auf den Grund zu kommen.
Den Geschäftsbüchern nach gehörten Adams neben den beiden Huntern noch vier Rennpferde auf dem Hof. Da sie uns alle nicht unter ihrem richtigen Namen bekannt waren, konnte Mickey jedes von den vieren sein. Er konnte durchaus Kandersteg oder Starlamp sein. Es sah ganz so aus, als wäre er einer von den beiden und sollte in Supermans Fußstapfen treten. Also machte ich mir Gedanken.
Freitag früh brachte ein gemieteter Transporter unseren Starter nach Haydock, und Humbers Transporter blieb ebenso wie Jud, der sonst immer die Pferde fuhr, bis Mittag auf dem Hof. Das war eine klare Abweichung vom Trott, und ich nutzte die Gelegenheit, mir den Kilometerstand auf dem Tacho anzusehen.
Jud fuhr mit dem Transporter zum Hof hinaus, während wir noch die Mittagspampe löffelten, und wir sahen ihn auch nicht wiederkommen, da wir auf der am weitesten vom Stall entfernten Arbeitsbahn die Grasplacken wieder einsetzten, die im Lauf der Woche beim Training aus dem weichen Boden gerissen worden waren, doch als wir zur Abendstallzeit um vier zurückkamen, stand Mickey in seiner Box.
Ich stieg ins Fahrerhaus des Transporters und sah mir den Kilometerstand an. Jud hatte genau sechsundzwanzigeinhalb Kilometer zurückgelegt. An der Küste konnte er nicht gewesen sein. Grimmig dachte ich mir mein Teil.
Als ich mit meinen beiden Rennpferden fertig war, ging ich mit den Bürsten und Heugabeln zu Adams’ schwarzem Hunter hinüber und sah Jerry nebenan mit Tränen im Gesicht vor Mickeys Box stehen.
«Was hast du?«fragte ich und stellte mein Zeug ab.
«Mickey… hat mich gebissen«, sagte er. Er zitterte vor Angst und Schmerzen.
«Laß mal sehen.«
Ich half ihm, den linken Arm aus dem Pullover zu ziehen, und sah mir den Schaden an. Am Oberarm, nicht weit von der Schulter, zeichnete sich blaurot ein dicker, runder Striemen ab. Das Pferd hatte voll zugebissen.
Cass kam herüber.
«Was ist denn hier los?«
Aber er sah Jerrys Arm und wußte Bescheid. Er schaute über die Stalltür in Mickeys Box, wandte sich an Jerry und sagte:»Seine Beine waren schon zu kaputt für die Meerwasserkur. Der Tierarzt meinte, die müßte er scharf einreiben, und das hat er heute nachmittag gemacht, als Mickey wiederkam. Deswegen stellt er sich so an. Er ist etwas mitgenommen, und das wärst du ja auch, wenn sie dir ein Pflaster, das so brennt, aufs Bein pappen würden. Also hör auf zu flennen, geh rein und schau, daß du mit ihm fertig wirst. Und du, Dan, machst dich an den Hunter und kümmerst dich um deinen Kram. «Er ließ uns stehen.
«Ich kann nicht«, meinte Jerry mehr zu sich selbst als zu mir.
«Das schaffst du schon«, ermunterte ich ihn.
Er sah mich entsetzt an.»Der beißt mich noch mal.«
«Ach was.«
«Er hat’s dauernd versucht. Und er keilt wie verrückt aus. Ich trau mich da nicht rein…«Steif, angstbebend stand er da, und mir wurde klar, daß er so wirklich nicht mehr in die Box gehen konnte.
«Na schön«, sagte ich,»ich nehme dir Mickey ab, du machst meinen Hunter. Aber mach ihn gut, Jerry, er muß tipptopp sein. Mr. Adams reitet ihn morgen wieder, und ich will nicht noch mal einen Samstag auf den Knien herumrutschen.«
Er sah mich verdutzt an.»So was hat noch keiner für mich getan.«
«Wir tauschen ja nur«, sagte ich schroff.»Wenn du mit meinem Hunter schluderst, beiße ich dich schlimmer als Mickey.«
Er hörte auf zu zittern und grinste, wie ich es mir gewünscht hatte; dann zog er den Pullover wieder über den schmerzenden Arm, griff sich meine Bürsten und öffnete die Tür zur Box des Hunters.
«Du sagst doch Cass nichts davon?«fragte er besorgt.
«Nein«, versicherte ich ihm und sperrte Mickeys Tür auf.
Das Pferd war fest angebunden und trug einen verstellbaren hölzernen Halskragen, damit es sich nicht die Verbände von den Vorderbeinen abreißen konnte. Unter den Verbänden waren Mickeys Beine laut Cass» geblistert«, das hieß, mit einem scharfen Mittel eingerieben, das zur Straffung und Kräftigung der Sehnen diente. Blistern oder scharfes Einreiben war bei Sehnenschwäche durchaus üblich. Nur, daß Mickeys Beine der Behandlung nicht bedurft hatten. Für meine Begriffe waren sie völlig in Ordnung gewesen. Jetzt dagegen schmerzten sie ihn offensichtlich und mindestens so sehr wie vom Blistern, wenn nicht stärker.
Mickey war so erregt, wie Jerry gesagt hatte. Weder Hand noch Stimme konnten ihn beruhigen; er schlug mit den Hinterbeinen aus, sobald er mich in Reichweite wähnte, und auch mit den Zähnen war er kräftig dabei. Ich hielt mich hinter ihm fern, auch wenn er sich redlich mühte, mich vor die Hufe zu bekommen, während ich die Box einstreute. Ich brachte ihm Heu und Wasser, doch das interessierte ihn nicht, und legte ihm eine neue Decke auf, da die alte schweißdurchtränkt war und er sich in der Nacht damit erkältet hätte. Der Deckenwechsel gestaltete sich etwas schwierig, aber da ich Mickeys Angriffe mit der Heugabel abwehrte, kam ich mit heiler Haut davon.