Ich ging mit Jerry zu den Futterkisten, wo Cass jedem Pferd sein Futter zuteilte, und als wir wieder bei den Boxen waren, tauschten wir feierlich die Maße aus. Jerry grinste glücklich. Mickey wollte nicht fressen, höchstens ein paar Stückchen von mir. Die bekam er nicht. Ich ließ ihn für die Nacht angebunden und brachte mich mit Jerrys Putzzeug auf der anderen Seite der Tür in Sicherheit. Bis zum Morgen würde er sich hoffentlich einigermaßen beruhigt haben.
Jerry striegelte dem schwarzen Hunter die Haare praktisch einzeln und summte dabei leise vor sich hin.
«Bist du soweit?«fragte ich.
«Ist es gut so?«fragte er zurück.
Ich trat in die Box, um mir sein Werk anzusehen.
«Prima«, sagte ich wahrheitsgemäß. Pferde putzen konnte Jerry wirklich gut; und am nächsten Tag ließ Adams zu meiner großen Erleichterung beide Hunter kommentarlos durchgehen und sagte nichts weiter zu mir. Er war in Eile, weil er zu einem weit entfernten Jagdtreffen mußte, aber anscheinend war es mir doch auch geglückt, einen des Quälens unwürdigen, rückgratlosen Eindruck auf ihn zu machen.
Um Mickey stand es an diesem Morgen noch viel schlimmer. Als Adams gefahren war, trat ich mit Jerry an die Tür von Mickeys Box und schaute hinein. Das arme Tier hatte sich trotz des Halskragens einen der Verbände abgerissen, und wir sahen eine große, offene Stelle über der Sehne.
Mickey drehte sich mit wildem Blick und angelegten Ohren nach uns um, den Hals aggressiv vorgestreckt. Die Muskeln an seinen Schultern und der Hinterhand zitterten stark. So hatte ich noch nie ein Pferd erlebt, außer wenn es kämpfte, und ich hielt ihn für gefährlich.
«Der ist durchgeknallt«, flüsterte Jerry gebannt.
«Armes Tier.«
«Willst du da reingehen?«fragte er.»Der bringt dich doch um.«
«Hol Cass«, sagte ich.»Da gehe ich erst rein, wenn Cass und Humber selbst Bescheid wissen. Lauf zu Cass und sag ihm, daß Mickey übergeschnappt ist. Dann kommt er ihn sich bestimmt ansehen.«
Jerry trabte los und kam mit Cass zurück, der zwischen Besorgnis und Verachtung hin- und hergerissen schien. Als er Mickey dann sah, gewann die Besorgnis prompt die Oberhand; er ermahnte Jerry, auf keinen Fall Mickeys Tür zu öffnen, und lief zu Humber.
Humber kam, auf seinen Stock gestützt, im Eilschritt über den Hof, während der kleinere Cass neben ihm hertrabte. Und Humber sah sich Mickey eine ganze Weile an. Dann richtete er den Blick auf Jerry, der bei dem Gedanken, ein Pferd in diesem Zustand versorgen zu müssen, wieder zitterte, und schließlich auf mich, der vor der Tür der nächsten Box stand.
«Das ist die Box von Mr. Adams’ Hunter«, sagte er zu mir.
«Ja, Sir. Mr. Adams hat ihn gerade abgeholt, Sir.«
Er musterte mich, musterte Jerry und meinte dann zu Cass:»Roke und Webber tauschen am besten. Sie haben zwar beide keinen Mumm, aber Roke ist größer, kräftiger und älter.«
Und außerdem, dachte ich mit plötzlicher Klarsicht, hat Jerry Eltern, die Theater machen, wenn ihm etwas passiert, wogegen bei Roke keine Angehörigen vermerkt sind.
«Alleine geh ich da nicht rein, Sir«, sagte ich.»Cass muß ihn mit der Gabel in Schach halten, während ich saubermache. «Und selbst dann konnten wir von Glück sagen, wenn wir nicht getreten wurden.
Cass erklärte Humber zu meiner Belustigung schleunigst, wenn ich Angst hätte, es allein zu machen, werde er noch einen Pfleger hinzuholen. Humber beachtete uns jedoch beide nicht, sondern starrte düster wieder Mickey an.
Schließlich wandte er sich an mich und sagte:»Nehmen Sie einen Eimer und kommen Sie zum Büro.«
«Einen leeren Eimer, Sir?«
«Ja«, sagte er ungeduldig,»einen leeren Eimer.«
Schon drehte er sich um und hinkte zu dem langen Backsteinbau hinüber. Ich nahm den Eimer aus der Box des Hunters, ging hinter ihm her und wartete an der Tür.
Er kam mit einem Arzneimittelfläschchen in der einen und einem Teelöffel in der anderen Hand wieder heraus.
Das Fläschchen hatte einen Glasstöpsel und war zu drei Vierteln mit einem weißen Pulver gefüllt. Er bedeutete mir, ihm den Eimer hinzuhalten, und schüttete einen halben Teelöffel von dem Pulver hinein.
«Füllen Sie den Eimer nur zu einem Drittel mit Wasser«, sagte er,»und stellen Sie ihn Mickey in die Krippe, damit er ihn nicht umschmeißen kann. Wenn er das erst mal trinkt, beruhigt er sich.«
Er verschwand mit Fläschchen und Löffel wieder im Büro, und ich entnahm dem Eimer eine Prise des weißen Pulvers und schüttete sie in die zusammengefaltete Liste von Humbers Pferden in meinem Geldgürtel. Dann leckte ich mir über Finger und Daumen — die Pulverreste hatten einen leicht bitteren Geschmack. Das Fläschchen, das ich schon aus dem Schrank im Waschraum kannte, enthielt laut Etikett» Lösliches Phenobarbital«, und erstaunlich war nur, wieviel Humber davon auf Vorrat hatte.
Ich ließ Wasser in den Eimer laufen, rührte es mit der Hand um und kehrte zu Mickeys Box zurück. Cass war verschwunden. Jerry versorgte auf der anderen Hofseite sein drittes Pferd. Ich sah mich nach Hilfe um, aber niemand ließ sich blicken. Ich fluchte. Allein zu Mickey hineinzugehen wäre sträfliche Dummheit gewesen.
Humber kam wieder über den Hof.
«Worauf warten Sie?«
«Ich würde das Wasser verschütten, wenn ich ihm ausweiche, Sir.«»Ha!«
Mickeys Hufe krachten wild gegen die Wand.
«Sie trauen sich bloß nicht.«
«Nur ein Idiot geht da allein rein, Sir«, sagte ich mürrisch.
Er starrte mich böse an, merkte aber offenbar, daß es zwecklos war, mich zu drängen. Plötzlich nahm er den Gehstock in die linke Hand und ergriff mit der rechten die Heugabel, die an der Wand lehnte.
«Kommen Sie schon«, sagte er barsch.»Es wird Zeit.«
Er gab ein merkwürdiges Bild ab, wie er da in seinem Aufzug wie aus einer Anzeige für Country Life die beiden unkonventionellen Waffen schwenkte. Hoffentlich war er auch so entschlossen, wie er sich anhörte.
Ich sperrte Mickeys Tür auf, und wir traten ein. Zu Unrecht hatte ich angenommen, Humber könnte die Flucht ergreifen und mich im Stich lassen; er war kaltblütig wie immer, als kenne er überhaupt keine Angst. Geschickt drängte er Mickey erst auf die eine, dann auf die andere Seite der Box, während ich ausmistete und frisches Stroh einstreute, und auch während ich die Futterreste aus der Krippe entfernte und den Eimer mit dem arzneiversetzten Wasser festklemmte, hielt er die Stellung. Mickey machte es ihm nicht leicht. Gebiß und Hufe waren rühriger und gefährlicher als am Abend zuvor.
Angesichts der Kaltblütigkeit Humbers war es besonders ärgerlich, den Hasenfuß spielen zu müssen, obschon es mir vor ihm leichter fiel als vor Adams.
Als ich fertig war, befahl mir Humber, als erster hinauszugehen, und sein Anzug hatte nicht ein Stäubchen abbekommen, als er hinter mir den Rückzug antrat.
Ich war mit einem Satz von der Tür weg und mimte Furcht und Zittern. Humber musterte mich angewidert.
«Roke«, meinte er sarkastisch,»ich hoffe, wenn Mickey halb betäubt ist, fühlen Sie sich ihm wieder gewachsen.«
«Ja, Sir«, sagte ich leise.
«Dann schlage ich vor, daß wir ihn noch ein paar Tage unter Beruhigungsmitteln halten, damit Ihr Mut nicht zu sehr auf die Probe gestellt wird. Jedesmal, wenn Sie ihm einen Eimer Wasser holen, lassen Sie sich von Cass oder mir was reintun. Verstanden?«
«Ja, Sir.«
Ich trug den Sack schmutzigen Strohs zum Misthaufen und sah mir den Verband, den sich Mickey abgerissen hatte, dort genauer an. Blister war ein rotes Zeug. An Mickeys Bein hatte ich vergeblich nach roter Paste gesucht, und auch an dem Verband war keine. Von der Größe der Wunde her hätte man eine halbe Tasse voll erwartet.