«Nehmen Sie einen Bauernsohn«, schlug ich vor.
«Ländlicher Akzent, Erfahrung mit Pferden… alles da.«
Er schüttelte den Kopf.»England ist zu klein. Wenn da ein Bauernsohn beim Pferderennen ein Pferd im Führring begleitet, spricht sich das rum. Zu viele Leute würden ihn erkennen und Fragen stellen.«
«Dann eben einen Landarbeitersohn, der intelligent genug ist.«
«Sollen wir Tests veranstalten?«fragte er säuerlich.
Es trat Stille ein, dann sah er von seinem Glas auf. Sein Gesicht war ernst, beinah streng.
«Also?«
Ich wollte klipp und klar nein sagen. Tatsächlich sagte ich wiederum:»Ich weiß nicht.«
«Was kann ich tun, um Sie zu überreden?«
«Nichts«, erwiderte ich.»Ich werde darüber nachdenken. Ich gebe Ihnen morgen Bescheid.«
«In Ordnung. «Er stand auf, lehnte meine Einladung zum Essen ab und ging, wie er gekommen war, mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit. Das Haus wirkte leer, als ich nach der Verabschiedung wieder hineinging.
Der Vollmond strahlte am schwarzen Himmel, und durch eine Lücke zwischen den Bergen reckte der ferne Mount Kosciusko seinen stumpfen, schneebedeckten Gipfel ins Licht. Ich saß auf einem Felsen hoch oben am Berghang und sah auf mein Zuhause hinunter.
Da lag die Lagune, lagen die großen Weiden, die sich bis zum Busch hin erstreckten, die kleinen, weiß eingezäunten Koppeln beim Haus, die Abfohlboxen mit ihrem schimmernden Dach, das große Stallgebäude, die Schlafbaracke, das niedrige Wohnhaus, lang und elegant, gespiegeltes Mondlicht in dem großen Fenster am Ende.
Da lag mein Gefängnis.
Anfangs war es nicht schlecht gewesen. Wir hatten keine Verwandten, die sich um uns kümmerten, und für mich war es eine Genugtuung, die Leute zu widerlegen, die meinten, ich könne nicht genug verdienen, um drei kleine Kinder — Belinda, Helen und Philip — mitzuernähren. Ich mochte Pferde, hatte sie immer schon gern gehabt, und das Geschäft lief von Anfang an recht gut. Jedenfalls hatten wir alle zu essen, und ich redete mir sogar ein, daß ich für den Anwaltsberuf eigentlich gar nicht geschaffen sei.
Meine Eltern hatten Belinda und Helen nach Frensham schicken wollen, und als es soweit war, kamen sie dort auch hin. Sicher hätte sich eine weniger kostspielige Schule finden lassen, aber sie sollten nach Möglichkeit bekommen, was ich bekommen hatte — und deshalb war Philip jetzt in Geelong. Mein Unternehmen war mit der Zeit gewachsen, aber auch das Schulgeld, die Löhne und die Unterhaltskosten waren gestiegen. Ich war gefangen in einer Aufwärtsspirale, und zu viel hing davon ab, daß ich am Ball bleiben konnte. Mein Beinbruch bei einem Jagdrennen, mit zweiundzwanzig, hatte die schlimmste finanzielle Krise in den ganzen neun Jahren ausgelöst — und notgedrungen hatte ich auf so waghalsige Abenteuer fortan verzichten müssen.
Die ewige Arbeit störte mich nicht. Ich mochte meine Geschwister sehr gern. Ich bereute nichts, was ich getan hatte. Aber das Gefühl, Gefangener in einer schönen, selbstgebauten Falle zu sein, nagte empfindlich an meiner Zufriedenheit als treusorgender älterer Bruder.
In acht oder zehn Jahren würden sie alle erwachsen, mit ihrer Ausbildung fertig und verheiratet sein, und meine Arbeit war getan. In zehn Jahren war ich siebenunddreißig. Vielleicht war ich bis dahin auch verheiratet, hatte eigene Kinder und schickte sie nach Frensham und nach Geelong… Seit über vier Jahren unterdrückte ich nach Kräften den Wunsch auszubrechen. Das ging leichter, wenn meine Geschwister in den Ferien nach Hause kamen, wenn das Haus von ihrem Lärm erfüllt war, wenn Philips Tischlerkünste überall herumlagen und die Rüschenwäsche der Mädchen zum Trocknen im Bad hing. Im Sommer ritten wir oder schwammen in der Lagune (dem See, wie meine britischen Eltern sagten), und im Winter liefen wir in den Bergen Ski. Wir verstanden uns bestens, und sie sahen nichts von dem, was wir hatten, als selbstverständlich an. Auch jetzt, wo sie größer wurden, konnte ich keine Anzeichen von jugendlicher Auflehnung bei ihnen feststellen. Sie machten mir wirklich Freude.
Acht Tage nachdem sie ins Internat zurückgekehrt waren, packte es mich dann meistens wieder: das heftige Verlangen, frei zu sein, frei und ungebunden für geraume Zeit, um endlich einmal weiter herumzukommen als zu den Verkaufsauktionen, weiter als gerade schnell einmal nach Sydney, Melbourne oder Cooma.
Geld verdienen Tag für Tag allein war noch kein Leben, und es gab mehr zu sehen auf der Welt als nur den einen schönen Flecken. Das Füttern der anderen Nestlinge hatte mich so sehr in Anspruch genommen, daß ich noch nie ausgeflogen war.
Da konnte ich mir zehnmal sagen, solche Gedanken seien müßig, das reine Selbstmitleid, ich hätte keinen Grund, mich zu beklagen. Nachts hielten mich schwere Depressionen wach, und in den schwarzen Zahlen blieb ich nur, weil ich tagsüber das Letzte aus mir herausholte.
Als Lord October erschien, waren die Kinder seit elf Tagen wieder in der Schule, und ich schlief schlecht. Vielleicht saß ich deshalb um vier Uhr morgens an einem Berghang und versuchte mir darüber klarzuwerden, ob ich eine eigenartige Stelle als Pferdepfleger auf der anderen Seite der Welt annehmen sollte oder nicht. Die Tür des Käfigs hatte sich zwar geöffnet; aber der Köder, der davor baumelte, um mich herauszulocken, schien mir verdächtig groß.
Zwanzigtausend englische Pfund. ein Haufen Geld. Allerdings hatte October nicht wissen können, wie es in mir kribbelte, und vielleicht gedacht, mit weniger käme er nicht an. (Wieviel hatte er wohl Arthur bieten wollen?)
Andererseits war da der tödlich verunglückte Rennsportjournalist. Wenn October oder seine Kollegen den leisesten Zweifel hegten, daß er wirklich einem Unfall zum Opfer gefallen war, hätte das die hohe Summe auch erklärt, nämlich als Reuegeld. Durch den Beruf meines Vaters hatte ich früher einiges über Verbrechen und Verbrecher mitbekommen, und ich wußte zuviel, um die Möglichkeit eines arrangierten Unfalls als kompletten Unsinn abzutun.
Ich hatte die Ordnungs- und Wahrheitsliebe meines Vaters geerbt und sein logisches Denken früh schätzengelernt, wenngleich ich ihn im Umgang mit unschuldigen Zeugen vor Gericht oft zu rüde fand. Mein Empfinden war stets, daß Recht geschehen sollte und daß mein Vater der Welt keinen guten Dienst erwies, wenn er die Schuldigen herauspaukte. Zum Strafverteidiger taugst du mit dieser Einstellung nicht, meinte er. Geh halt zur Polizei.
England, dachte ich. Zwanzigtausend Pfund. Detektiv spielen. Um ehrlich zu sein, Octobers Vorstellungen vom Ernst der Lage hatten mich nicht berührt. Der englische Rennsport fand auf der anderen Seite des Erdballs statt. Ich kannte keinen, der damit zu tun hatte. Wie es um seinen Ruf bestellt war, kümmerte mich herzlich wenig. Wenn ich hinfuhr, dann nicht aus selbstloser Hilfsbereitschaft. Ich würde nur fahren, weil mich das Abenteuer lockte, weil es spannend zu werden versprach, weil die Sirene sang, ich solle jede Verantwortung sausenlassen, die Fesseln sprengen und ins volle Leben eintauchen.
Der gesunde Menschenverstand sagte mir, die ganze Idee sei verrückt, der Earl of October sei ein hoffnungsloser Spinner, ich hätte kein Recht, meine Geschwister sich selbst zu überlassen, während ich mich in der Weltgeschichte herumtrieb, es gebe für mich nur eins, zu bleiben, wo ich war, und damit müsse ich zufrieden sein.
Der gesunde Menschenverstand unterlag.
Kapitel 2
Neun Tage später flog ich mit einer Boeing 707 nach England.
Ich schlief fast die ganzen sechsunddreißig Stunden von Sydney nach Darwin, von Darwin über Singapur und Rangun nach Kalkutta, von Kalkutta nach Karachi und Damaskus und von Damaskus über Düsseldorf zum Londoner Flughafen.
Hinter mir lag eine Unzahl praktischer Vorkehrungen und die Schreibarbeit von Monaten, gedrängt in eine einzige Woche. Ich wußte zwar nicht, wie lange ich fortbleiben würde, sagte mir aber, daß ein halbes Jahr genügen mußte, um etwas zu erreichen, und ging auch bei meiner Planung davon aus.