«Für Morde, die man bleiben läßt, sollte man nicht gehängt werden«, meinte sie trocken.»Sie sind sehr großzügig, und damit habe ich nicht gerechnet.«
«Dann hätten Sie mich nicht herbitten dürfen«, sagte ich nachdenklich.»Dafür war das Risiko zu groß.«
«Was für ein Risiko?«
«Daß ich Stunk machen, die Familie bloßstellen, den Ruf der Tarrens beflecken würde. Körbe voll schmutziger Wäsche für die Sonntagszeitungen, schwerer Gesichtsverlust für Ihren Vater gegenüber seinen Geschäftsfreunden.«
Sie sah mich erschrocken, aber auch entschlossen an.
«Trotzdem — Ihnen war Unrecht geschehen, und das mußte ins reine gebracht werden.«
«Ohne Rücksicht auf Verluste?«
«Ohne Rücksicht auf Verluste«, wiederholte sie leise.
Ich lächelte. Eine Frau ganz nach meinem Herzen. Auch ich hatte mich um Verluste wenig geschert.
«Gut«, sagte ich zögernd,»dann will ich Sie nicht länger stören. Es hat mich sehr gefreut. Sicher war es alles andere als einfach für Sie, sich zu dem Gespräch zu entschließen, und ich bin Ihnen dafür dankbarer, als ich sagen kann.«
Sie sah auf die Uhr und zögerte ebenfalls.»Es ist zwar nicht gerade die Zeit dafür, aber möchten Sie einen Kaffee? Ich meine, Sie sind so weit gefahren…«
«Gern«, sagte ich.
«Gut… setzen Sie sich, ich mache uns einen.«
Ich setzte mich wieder. Sie öffnete den Einbauschrank, der auf einer Seite ein Waschbecken mit Spiegel, auf der anderen einen Gasbrenner und ein Geschirrbord enthielt. Mit eleganten, sparsamen Bewegungen setzte sie Wasser auf und stellte Kaffeegeschirr auf den niedrigen Tisch zwischen den beiden Sesseln. Unbefangen, dachte ich. Selbstbewußt genug, um an einem Ort, wo Denkvermögen über Herkunft ging, ihren Titel beiseite zu lassen. Selbstbewußt genug, um einen Mann von meinem Aussehen auf ihr Zimmer kommen zu lassen und ihm ohne Not, rein aus Höflichkeit, einen Kaffee anzubieten.
Ich fragte sie, was sie studiere, und sie sagte, Englisch. Sie holte Milch, Zucker und Kekse.
«Darf ich mir Ihre Bücher ansehen?«fragte ich.
«Bitte«, sagte sie freundlich.
Ich stand auf und trat vor das Regal. Sie hatte philologische Lehrbücher — Altisländisch, Angelsächsisch, Mittelenglisch — und eine umfassende Auswahl englischer Literatur, von den Chroniken Alfreds des Großen bis zu den unerreichbaren Amazonen John Betjemans.
«Was halten Sie von meinen Büchern?«fragte sie neugierig.
Wie sollte ich darauf antworten? Das Versteckspiel war ihr gegenüber verdammt unfair.
«Sehr gelehrt«, sagte ich lahm.
Ich wandte mich von dem Regal ab und sah mich plötzlich von Kopf bis Fuß in der Spiegeltür ihres Kleiderschranks.
Mürrisch betrachtete ich mein Ebenbild, Roke, den Pferdepfleger, den ich zum erstenmal, seit ich vor Monaten Octobers Stadthaus verlassen hatte, wieder so zu Gesicht bekam, und er hatte mit der Zeit nichts gewonnen.
Die Haare waren zu lang, die Koteletten gingen fast bis an die Ohrläppchen. Die Haut war fahlgelb, die Sonnenbräune verblaßt. Eine gewisse Anspannung im Gesicht und ein argwöhnischer Augenausdruck waren hinzugekommen, und in meiner schwarzen Kluft sah ich schäbig und wenig vertrauenerweckend aus.
Ihre Gestalt erschien hinter mir, unsere Blicke trafen sich im Spiegel, und ich merkte, daß sie mich beobachtete.
«Anscheinend gefällt Ihnen nicht, was Sie sehen«, sagte sie.
Ich drehte mich um.»Nein«, erwiderte ich trocken.»Wem soll das gefallen?«
«Hm…«Auf einmal lächelte sie verschmitzt.»Ich würde Sie zum Beispiel nicht auf unser Haus hier loslassen. Aber wenn Sie mich fragen, was für eine Wirkung Sie…
Sie sind vielleicht etwas ungeschliffen, aber ich verstehe schon, was Patty, ehm… na ja…«Sie unterbrach sich und war jetzt sichtlich doch verlegen.
«Das Wasser kocht«, kam ich ihr zu Hilfe.
Erleichtert wandte sie sich ab und goß den Kaffee auf. Ich ging zum Fenster, sah auf den verlassenen Hof hinunter, drückte meine Stirn an das kühle Glas.
Es passiert trotzdem, dachte ich. Die gräßlichen Klamotten, die schräge Erscheinung änderten nichts. Zum tausendsten Mal fragte ich mich, welchen Zufällen man es verdankte, daß man mit einem bestimmten Körperbau zur Welt kam. Ich konnte nichts für den Schnitt meines Gesichts, die Form meines Kopfes. Sie waren mein Erbteil von zwei gutaussehenden Eltern — ihr Werk, nicht meines. Wie Elinors Haar, dachte ich. Angeboren. Nichts, auf das man stolz sein konnte. Zufall, wie ein Muttermal oder ein Schielen. Ich vergaß es nur immer wieder und war betroffen, wenn mich jemand darauf stieß. Sogar Geld hatte es mich schon gekostet. Zwei potentielle Käufer waren mir entgangen, weil ihre Frauen mehr Augen für mich als für meine Pferde gehabt hatten.
Bei Elinor, dachte ich, war es eine vorübergehende Anziehung, weiter nichts. Sie war zweifellos zu vernünftig, um sich mit einem ehemaligen Pferdepfleger ihres Vaters einzulassen. Und für mich wiederum hieß es ganz klar, Hände weg von beiden Tarren-Schwestern. Ich durfte nicht, kaum daß ich mit der einen aus dem Regen kam, mit der anderen in die Traufe springen. Trotzdem schade. Elinor gefiel mir wirklich sehr.
«Der Kaffee ist fertig«, sagte sie.
Ich ging zum Tisch zurück. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle. Der Schalk war aus ihren Augen verschwunden, und sie machte ein beinah strenges Gesicht, als bereute sie, was sie gesagt hatte, und wollte verhindern, daß ich es ausnutzte.
Sie gab mir eine Tasse und bot mir die Kekse an, die mir willkommen waren, da es bei Humber Brot, Margarine und harten, geschmacklosen Käse zu Mittag gegeben hatte und zu Abend wieder geben würde. Samstags sah der Speiseplan fast immer so aus, weil Humber wußte, daß wir dann in Posset aßen.
Wir unterhielten uns artig über die Pferde ihres Vaters. Ich erkundigte mich nach Sparking Plug, und sie meinte, er entwickle sich gut.
«Ich habe einen Zeitungsausschnitt über ihn«, sagte sie.
«Wollen Sie den sehen?«
«Gern.«
Ich folgte ihr an den Schreibtisch, während sie in den darauf liegenden Papieren suchte. Sie schob ein paar Blätter weg, wobei das oberste zu Boden fiel. Ich hob es auf und legte es zurück. Es schien eine Art Quiz zu sein.
«Danke«, sagte sie.»Das darf ich nicht verlieren, es ist das Preisausschreiben der Literarischen Gesellschaft, und mir fehlt nur noch eine Antwort. Wo hab ich denn bloß den Ausschnitt?«
Das Preisausschreiben bestand aus einer Reihe von Zitaten, zu denen man die Autoren finden mußte. Ich nahm es wieder in die Hand und las.
«Das erste ist ein Hammer«, sagte sie über ihre Schulter.»Glaub nicht, daß das schon jemand geknackt hat.«
«Wer gewinnt denn da?«fragte ich.
«Wer als erster alle richtigen Lösungen abgibt.«
«Und was gewinnt man?«
«Ein Buch. Aber es geht mehr ums Prestige. Wir haben pro Semester nur ein Preisausschreiben, und das ist immer schwierig. «Sie zog eine vollgestopfte Schublade auf.»Ich weiß, daß ich den Ausschnitt hier irgendwo hingetan habe.«
Sie begann den Schubladeninhalt herauszuräumen.
«Lassen Sie ruhig«, sagte ich höflich.
«Nein, jetzt will ich ihn auch finden. «Eine Handvoll Krimskrams landete klappernd auf dem Schreibtisch.
Unter den Sachen war ein verchromtes Röhrchen, ungefähr acht Zentimeter lang, mit einer Kette, die von einem Ende zum anderen lief. Du hast so was schon mal gesehen, ging es mir durch den Kopf. Und zwar schon öfter. Es hatte etwas mit Getränken zu tun.
«Was ist das?«fragte ich und zeigte hin.
«Das? Ach, das ist eine lautlose Pfeife. «Sie kramte weiter.»Für Hunde«, erklärte sie.
Ich hob sie auf. Eine lautlose Hundepfeife. Wieso brachte ich sie dann mit Flaschen und Gläsern in Verbindung und… die Welt stand still.
Mit einem spürbaren Ruck schloß sich der Kreis. Endlich hatte ich Adams und Humber am Kragen. Mein Puls ging schneller.