Es begann dunkel zu werden, und aus fast allen Boxen fiel Licht auf den Hof. Die dunklen Mauern von Humbers Haus, das am nächsten zu mir lag, verdeckten sein Büro und den ganzen oberen Teil des Hofs, aber an der Seite sah ich die geschlossenen Türen der Boxenreihe, in der als vierter von links Kandersteg stand.
Und da war er auch schon, ein heller Fuchs, der direkt ins Licht trat, als Bert sein Stroh für die Nacht erneuerte. Ich seufzte erleichtert und führte die Wache im Sitzen fort.
Der Trott ging unverändert weiter. Ich beobachtete Humber, wie er langsam, auf den Stock gestützt, seinen Kontrollgang machte, und rieb mir geistesabwesend die blauen Flecken, die er mir am Morgen verpaßt hatte. Eine Stalltür nach der anderen wurde verriegelt, und die Lichter gingen aus, bis nur ein einziges Fenster noch erhellt war, das letzte in der Boxenreihe rechts, die Gemeinschaftsküche der Pfleger. Ich legte das Fernglas hin, stand auf und vertrat mir die Beine.
Wie immer im Heidemoor war die Luft in Bewegung. Es war kein Wind, keine Brise, mehr ein alles umfließender Kältestrom. Um den Luftzug abzuhalten, stellte ich das Motorrad, zur Straße und zum Moor hin durch Reisig verdeckt, als Barrikade auf. Dahinter saß ich dann windgeschützt auf dem Koffer, wickelte mich in die Decke und hatte es halbwegs warm und gemütlich.
Ich sah auf die Uhr. Kurz vor acht. Es war eine schöne, klare, sternenhelle Nacht. Den nördlichen Sternenhimmel hatte ich, abgesehen vom Polarstern und vom Großen Bären, noch immer nicht im Kopf. Und nach West-Südwest zu blitzte die Venus. Schade, daß ich mir nicht zum Zeitvertreib eine Sternkarte gekauft hatte.
Im Hof unten öffnete sich die Küchentür, und ein Lichtstreifen drang heraus. Cecils Gestalt stand sekundenlang als Schattenriß darin, dann schloß er die Tür hinter sich, und ich konnte ihn im Dunkeln nicht mehr sehen. Sicher auf dem Weg zur Flasche.
Ich aß von der Pastete und danach eine Tafel Schokolade.
Zeit verging. Bei Humber tat sich nichts. Ab und zu rauschte auf der Straße hinter mir ein Auto vorbei, aber keines hielt an. Neun Uhr und später. Colonel Beckett würde jetzt in seinem Club zu Abend essen, und wie es aussah, hätte ich ihn getrost anrufen können. Ich zuckte die Achseln. Morgen früh bekam er ja meinen Brief.
Die Küchentür öffnete sich wieder, zwei oder drei Pfleger kamen heraus und gingen mit der Taschenlampe zum Abort. Oben im Heuboden schimmerte mattes Licht durch die nicht mit Packpapier verklebte Fensterhälfte. Schlafenszeit. Cecil wankte in die Stube, umarmte den Türpfosten, um nicht hinzufallen. Unten ging das Licht aus, und oben schließlich auch.
Tiefe Nacht. Die Stunden vergingen. Der Mond schien hell. Ich blickte über die urtümliche Heide hin und hegte wenig originelle Gedanken, zum Beispiel, wie schön doch die Erde war und wie bös das Affentier, das sie beherrschte. Der nimmersatte, fiese, machthungrige, zerstörerische alte Homo sapiens. Sapiens gleich weise, klug, vernunftbegabt. Ein Witz. Auf einem so schönen Planeten hätte sich eigentlich ein netteres, vernünftigeres Wesen entwik-keln sollen. Eine Gattung, die Leute wie Adams und Humber hervorbrachte, konnte man nicht als vollauf gelungen betrachten.
Um vier aß ich noch etwas Schokolade, trank Mineralwasser und dachte ein Weilchen an mein in der Nachmittagssonne schmachtendes Gestüt daheim, zwanzigtausend Kilometer entfernt. Dort wartete ein normales, geregeltes Leben auf mich, wenn ich lange genug zu nachtschlafener Zeit auf winterkalten Hängen herumgesessen hatte.
Die Kälte drang nach und nach durch meine Decke, aber mehr als in Humbers Schlafraum fror ich auch nicht. Ich gähnte, rieb mir die Augen und begann auszurechnen, wie viele Sekunden noch bis zum Morgengrauen vergehen würden. Wenn die Sonne, wie ich annahm, um zehn vor sieben aufging, dann waren es hundertdreizehn mal sechzig, gleich sechstausendsiebenhundertachtzig Sekunden bis Donnerstag. Ja, und bis Freitag? Ich gab es auf. Es konnte zwar sein, daß ich dann immer noch hier am Hang saß, aber vielleicht hatte ich Glück und ein von Beckett gesandter Mitbeobachter kniff mich wach, wenn es ernst wurde.
Um Viertel nach sechs ging bei den Pflegern das Licht wieder an, und der Stall erwachte zum Leben. Eine halbe Stunde später verließ das erste Lot mit sechs Pferden den Hof und zog die Straße entlang nach Posset. Donnerstags ging es nicht zum Galoppieren aufs Moor. Arbeit auf dem Asphalt.
Kaum waren sie außer Sicht, kam Jud Wilson mit seinem dicken Ford in den Hof gefahren und hielt neben der Transportergarage. Cass ging über den Hof zu ihm, und sie unterhielten sich eine Weile. Dann sah ich durchs
Fernglas, wie Jud Wilson zur Garage ging und die großen Torflügel öffnete, während Cass geradewegs zu Kander-stegs Box marschierte, der vierten von links.
Es ging los.
Und es ging wie am Schnürchen. Jud Wilson fuhr den Transporter rückwärts in die Hofmitte und ließ die Rampe herunter. Cass führte das Pferd direkt zum Wagen, lud es ein und war binnen einer Minute wieder draußen, um mit Jud die Rampe hochzuklappen und zu verriegeln. Sie blickten kurz zum Haus, und prompt kam Humber angehinkt.
Cass sah zu, wie Humber und Jud Wilson ins Fahrerhaus stiegen. Der Transporter fuhr zum Hof hinaus. Das ganze Verladen hatte keine fünf Minuten gedauert.
Ich hatte unterdessen die Decke über den Koffer geworfen und das Motorrad unterm Reisig hervorgeholt. Das Fernglas umgehängt und unter die Lederjacke gesteckt. Ich setzte Sturzhelm und Motorradbrille auf und zog die Handschuhe an.
Obwohl ich davon ausgegangen war, daß sie Kandersteg nach Norden oder Westen schaffen würden, war ich doch erleichtert, daß sich das nun bewahrheitete. Der Transporter bog scharf nach Westen ab und fuhr auf der anderen Talseite die Straße entlang, die quer zu derjenigen verlief, an der ich wartete.
Ich schob die Maschine auf die Straße, ließ (mit Vergnügen diesmal) meine dritte Ladung Kleider hinter mir, warf den Motor an und schaute, daß ich zu der Kreuzung kam. Dort sah ich aus einem sicheren Abstand von vierhundert Metern, wie der Pferdetransporter langsamer wurde, rechts abbog und wieder Gas gab.
Kapitel 16
Ich kauerte den ganzen Tag in einem Graben und beobachtete, wie Adams, Humber und Jud Wilson Kandersteg zu Tode ängstigten.
Es war übel.
Die Mittel, die sie benutzten, waren im Prinzip so einfach wie die ganze Methode; den Erfolg garantierte eine besonders angelegte, knapp ein Hektar große Koppel.
Die schmale, hohe Hecke, die um die Koppel lief, war bis in Schulterhöhe mit dickem, glattem Draht durchzogen. Vier bis fünf Meter weiter innen verlief ein stabiler Lattenzaun, dessen Holz vom Wetter eine freundliche graubraune Farbe angenommen hatte.
Auf den ersten Blick sah es aus wie die doppelte Umzäunung, die man in vielen Gestüten anlegt, damit die Jungtiere sich nicht am Draht verletzen. Aber hier verlief der Innenzaun an den Ecken nicht rechtwinklig, sondern rund, so daß zwischen den beiden Abzäunungen praktisch eine Miniaturrennbahn entstanden war.
Es sah ganz harmlos aus. Eine Jungtierweide, eine Trainingsbahn für Rennpferde, für Springpferde… je nachdem. Mit einem Geräteschuppen gleich draußen am Gatter. Sinnvoll. Normal.
Ich hielt mich halb kniend, halb liegend am Ende der einen Längsseite der Koppel in einem Abflußgraben hinter der Hecke verborgen und befand mich knapp hundert Meter rechts von dem in der anderen Ecke gelegenen Schuppen. Die Hecke war bis dreißig Zentimeter über dem Boden gestutzt, und der liegengebliebene Schnitt gab mir Deckung, doch weiter oben wuchs der blattlose Weißdorn dürr und gerade in die Höhe, durchsichtig wie ein Sieb. Aber ich nahm an, solange ich mich still verhielt, wurde ich nicht bemerkt. Und auch wenn ich gefährlich nah dran war, so nah, daß ich gar nicht mehr das Fernglas brauchte es gab weit und breit kein besseres Versteck.