Meine Finger stockten an der Wählscheibe, und ich erstarrte. Mein Kopf war plötzlich klar.
Kandersteg stand nicht unter Beruhigungsmitteln. Seine Erinnerung sollte ja nicht getrübt werden. Im Gegenteil. Mickey hatte erst Phenobarbital bekommen, als er völlig aus dem Lot geraten war.
Ich wollte nicht glauben, was mein Verstand mir sagte: daß ein oder mehrere Teelöffel Phenobarbital, aufgelöst in einem großen Glas Gin mit Campari, fast mit Sicherheit den Tod bedeuteten.
Ganz genau erinnerte ich mich an die Szene im Büro, an die Gläser, das angespannte Gesicht Humbers, die Belustigung von Adams. Die gleiche fröhliche Miene, mit der er sich angeschickt hatte, mich umzubringen. Töten machte ihm Spaß. Er hatte den voreiligen Schluß gezogen, Eli-nor kenne den Zweck der Hundepfeife, und hatte nicht gezögert, sie aus dem Weg zu räumen.
Kein Wunder, daß er sie nicht gebeten hatte, noch zu bleiben. Sie sollte schön zum College zurückfahren und auf ihrem Zimmer sterben, zig Kilometer entfernt, ein dummes Ding, das eine Überdosis Tabletten geschluckt hatte. Keinerlei Verbindung zu Adams und Humber.
Kein Wunder auch, daß er so entschlossen gewesen war, mich umzubringen: nicht nur, weil ich über die Pferde Bescheid wußte, sondern weil ich Elinor den Gin hatte trinken sehen.
Ich konnte mir unschwer vorstellen, was meiner Ankunft vorausgegangen war. Adams, wie er scheinheilig fragte:»Sie wollten also nachhören, ob Roke die Pfeife noch braucht?«
«Ja.«
«Und weiß Ihr Vater, daß Sie hier sind? Weiß er von der Pfeife?«
«Ach was, ich bin ganz spontan hergekommen. Er hat keine Ahnung.«
Sicher hatte er sie für dumm gehalten, weil sie einfach so hereingeplatzt war; aber für einen Mann wie ihn waren vermutlich alle Frauen dumm.
«Möchten Sie Eis zu Ihrem Drink? Ich hole Ihnen welches. Keine Mühe. Gleich nebenan. Bitte sehr, meine Liebe, einmal Gin mit Phenobarbital, und auf geht’s in den Himmel.«
Im Fall Stapleton hatte er auf die gleiche Karte gesetzt, und es hatte funktioniert. Wäre er da nicht auch noch mit zwei weiteren Morden durchgekommen, wenn man mich im nächsten Bezirk tot unter den Trümmern meines Motorrads in einer Schlucht gefunden hätte und Elinor tot in ihrem College?
Wenn Elinor starb.
Ich hatte den Finger noch auf der Wählscheibe. Ich wählte dreimal die Neun. Niemand meldete sich. Ich drückte auf die Gabel und versuchte es noch einmal. Nichts. Keine Verbindung. Die Leitung war tot. Alles war tot — Mickey war tot, Stapleton war tot, Adams war tot, Elinor… laß das. Ich nahm meinen durcheinandergeratenen Verstand zusammen. Wenn das Telefon nicht funktionierte, mußte jemand zu Elinor hinfahren, damit sie nicht starb.
Mein erster Gedanke war, daß ich nicht fahren konnte. Aber wer sonst? Wenn ich recht hatte, brauchte sie dringend einen Arzt, und mit jeder Sekunde, die ich nach einem Telefon suchte oder nach jemandem, der mir die Fahrt abnehmen konnte, verringerten sich ihre Überlebenschancen. Ich konnte in zwanzig Minuten bei ihr sein. Wenn ich zum Anrufen nach Posset fuhr, wurde ihr auch nicht schneller geholfen.
Erst beim dritten Versuch brachte ich den Schlüssel ins Schloß. Mit der Rechten konnte ich ihn überhaupt nicht halten, und die Linke zitterte. Ich holte tief Luft, schloß die Tür auf, ging hinaus und zog sie hinter mir zu.
Niemand bemerkte mich, als ich den Stallhof auf dem gleichen Weg, den ich gekommen war, verließ und zu meinem Motorrad ging. Aber es sprang nicht sofort an, und schon kam Cass neugierig um die Boxenreihe herum.
«Hallo?«rief er.»Bist du das, Dan? Was willst du denn hier noch?«Er kam auf mich zu.
Ich trat grimmig auf den Starter. Der Motor blubberte, hustete und heulte auf. Ich zog die Kupplung und legte den Gang ein.
«Hiergeblieben!«rief Cass. Aber ich fuhr ihm davon und brauste zum Tor hinaus in Richtung Posset, daß der Schotter unter den Reifen wegspritzte.
Der Gaszug war im rechten Lenkergriff integriert. Man drehte den Griff einwärts, um zu beschleunigen, und vorwärts, um das Tempo zu verlangsamen. Normalerweise drehte er sich leicht. Jetzt allerdings nicht, denn sobald ich die Finger um ihn geschlossen hatte, war es mit der Taubheit in meinem Arm schlagartig vorbei. Fast wäre ich in der Ausfahrt noch vom Bock gefallen.
Durham lag sechzehn Kilometer nordöstlich. Zweieinhalb bergab nach Posset, zwölf auf einer leidlich geraden, wenig befahrenen Nebenstraße durchs Heidemoor, anderthalb durch die Stadt zur Uni. Das letzte Stück würde wegen des Verkehrs, der Abzweigungen, der vielen Tempowechsel am schwierigsten sein.
Nur das Wissen, daß Elinor ohne mich wahrscheinlich sterben würde, hielt mich überhaupt auf der Maschine, und insgesamt war es eine Fahrt, die ich nicht noch einmal erleben möchte. Ich wußte nicht, wieviel Schläge ich abbekommen hatte, aber mancher Teppich wäre danach staubfrei gewesen. Ich konzentrierte mich auf die vor mir liegende Aufgabe.
Wenn Elinor direkt zum College gefahren war, mußte sie bald nach ihrer Ankunft schläfrig geworden sein. Soweit ich wußte — es hatte mich nie sonderlich interessiert —, wirkten Barbiturate erst nach einer Stunde. Aber in Verbindung mit Alkohol setzte die Wirkung schneller ein. Nach zwanzig Minuten oder einer halben Stunde vielleicht schon. Ich wußte es nicht. In zwanzig Minuten konnte sie zumindest heil von Humber zurückgekommen sein. Und dann? Wahrscheinlich war sie hinauf in ihr Zimmer gegangen, hatte sich hingelegt, weil sie müde war, und war eingeschlafen.
Während ich mit Adams und Humber gekämpft hatte, war sie unterwegs nach Durham gewesen. Ich wußte nicht, wieviel Zeit ich im Waschraum verduselt hatte, aber sie konnte erst kurz, bevor ich losgefahren war, im College angekommen sein. Vielleicht war ihr ja so schwummrig gewesen, daß sie es einer Freundin erzählt oder jemand um Rat gefragt hatte, aber selbst dann konnte niemand ahnen, was mit ihr los war.
Ich kam nach Durham, bog ab und wieder ab, hielt sogar bei Rot an einer verkehrsreichen Straße und kämpfte gegen die Versuchung an, den letzten Kilometer im Schritttempo zu fahren, nur damit ich nicht mehr am Lenkergriff zu drehen brauchte. Aber die Sorge, das Gift könnte inzwischen irreparable Schäden herbeiführen, trieb mich voran.
Kapitel 18
Es wurde schon dunkel, als ich am College vorfuhr, den Motor abstellte und die Eingangsstufen hinaufhastete. Am Pförtnertisch saß niemand, und alles war ruhig. Ich rannte durch die Gänge, fand die Treppe, lief in den zweiten Stock. Dann war Ende. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo es zu Elinors Zimmer ging.
Eine magere, ältere Frau mit Kneifer, die einen Stapel Papiere und ein dickes Buch in den Armen hielt, kam mir entgegen. Eine Lehrerin, dachte ich.
«Bitte«, sagte ich,»wie komme ich zu Miss Tarren?«
Sie blieb vor mir stehen und musterte mich. Ich gefiel ihr nicht. Was hätte ich in dem Moment für ein gepflegtes Äußeres gegeben!
«Bitte«, sagte ich noch einmal.»Es kann sein, daß sie krank ist. Wie komme ich zu ihr?«
«Sie haben Blut im Gesicht«, sagte sie.
«Das ist nur ein Kratzer… bitte…«Ich packte sie am Arm.»Zeigen Sie mir, wo ihr Zimmer ist, und wenn es ihr gutgeht und ihr nichts fehlt, sind Sie mich gleich wieder los. Aber es kann sein, daß sie dringend Hilfe braucht. Bitte glauben Sie mir…«
«Na schön«, sagte sie zögernd.»Sehen wir nach. Hier entlang bitte… und da lang.«
Wir kamen zu Elinors Tür. Ich klopfte laut. Keine Antwort. Ich bückte mich zum Schlüsselloch hinunter. Der
Schlüssel steckte von innen, so daß ich nichts sehen konnte.
«Machen Sie auf«, drängte ich die Frau, die mich noch immer skeptisch betrachtete.»Machen Sie auf, und schauen Sie, ob es ihr gutgeht.«
Sie drückte die Klinke nieder. Aber es war abgeschlossen.
Ich hämmerte wieder an die Tür. Nichts.
«Hören Sie bitte«, sagte ich eindringlich.»Die Tür ist von innen abgeschlossen, also muß Elinor Tarren im Zimmer sein. Sie meldet sich nicht, weil sie nicht kann. Sie braucht unbedingt sofort einen Arzt. Können Sie das veranlassen?«