«Das ist auch eine lange Geschichte«, sagte ich müde.
«Sie werden sie der Polizei erzählen müssen«, meinte er.
Ich nickte. Der Polizei mußte ich viel zuviel erzählen. Ich freute mich nicht darauf. Der Arzt griff zu Papier und Stift und schrieb einen Bericht für das Krankenhaus.
Auf dem Gang hörte man plötzlich Mädchenstimmen, leichtfüßiges Getrappel und Türenschlagen. Die Studentinnen kamen von ihrer Versammlung zurück — für Elinor etwas zu früh, denn nun würden alle mitbekommen, wie man sie abholte.
Kräftigere Schritte hielten vor Elinors Zimmer, dann wurde geklopft. Zwei Sanitäter in Weiß kamen mit einer Trage herein, hoben Elinor mit schnellen, geübten Griffen darauf, deckten sie zu und brachten sie fort. Eine Welle mitfühlender, besorgter Fragen begleitete sie.
Der Arzt schloß die Tür und nahm ohne weitere Umschweife Nadel und Faden aus seiner Tasche, um mir die Stirn zusammenzunähen. Ich saß auf Elinors Bett, während er die Wunde desinfizierte und die Naht legte.
«Weswegen haben Sie gerauft?«fragte er.
«Weil ich angegriffen wurde«, sagte ich.
«So?«Er verlagerte sein Gewicht, um aus einem anderen Winkel weiterzunähen, und stützte sich dabei auf meiner Schulter ab. Als er merkte, wie ich unter dem Druck zurückwich, sah er mich fragend an.
«Sie haben also den kürzeren gezogen?«
«Nein«, sagte ich langsam.»Ich habe gewonnen.«
Er war fertig und schnitt den Faden mit der Schere ab.
«Bitte sehr. Da wird kaum eine Narbe zurückbleiben.«
«Danke. «Es klang ein bißchen schwach.
«Geht’s Ihnen gut?«fragte er plötzlich.»Sehen Sie immer so grau aus?«
«Selten. Aber im Moment paßt grau zu mir. Ich habe auch eins über den Schädel bekommen.«
Er untersuchte die Beule hinter meinem Ohr und meinte, ich würde es überleben. Er fragte mich gerade, wo es mir sonst noch weh tue, als wieder schwere Schritte auf dem Gang ertönten und mit Gepolter die Tür aufflog.
Zwei breitschultrige Polizisten in Uniform betraten das Zimmer.
Sie kannten den Arzt. Offenbar nahm ihn die Polizei in Durham öfters in Anspruch. Sie begrüßten einander höflich, und der Arzt teilte ihnen mit, daß Miss Tarren bereits auf dem Weg ins Krankenhaus sei. Sie ließen ihn nicht ausreden.
«Wir kommen seinetwegen, Sir«, sagte der größere der beiden und wies auf mich.»Daniel Roke, ein Pferdepfleger.«
«Ja, er hat Hilfe für Miss Tarren geholt.«
«Nein, Sir, wegen einer Miss Tarren oder Hilfe für Miss Tarren sind wir nicht hier. Wir müssen ihn in einer anderen Angelegenheit befragen.«»Es geht ihm nicht besonders«, sagte der Arzt.»Muten Sie ihm nicht zuviel zu. Hat das nicht bis später Zeit?«
«Auf keinen Fall, Sir.«
Sie kamen entschlossen zu mir herüber. Der Wortführer war ein Rotschopf etwa in meinem Alter, mit ernstem, gespanntem Gesicht. Sein etwas kleinerer Partner hatte dunkle Haare, braune Augen und war genauso auf der Hut. Es sah aus, als befürchteten sie, ich könnte aufspringen und ihnen die Hälse umdrehen.
Wie auf Kommando beugten sich beide vor und nahmen meine Unterarme in den Zangengriff. Der Rothaarige, rechts von mir, zog Handschellen aus der Tasche, und vereint legten sie sie mir an.
«Immer mit der Ruhe, Sportsfreund«, warnte mich der Rothaarige, als ich versuchte, meinen Arm seinem schmerzhaften Griff zu entziehen, was er offenbar als Fluchtabsicht mißverstand.
«Lassen Sie mich los«, sagte ich.»Ich haue nicht ab.«
Sie nahmen die Hände weg, traten einen Schritt zurück und sahen mich an. Ihre Gesichter waren schon viel entspannter; sie hatten wohl wirklich mit ernstem Widerstand gerechnet. Es war entnervend. Ich atmete tief durch, um den Schmerzen in meinem Arm beizukommen.
«Der macht uns keinen Ärger«, sagte der Dunkelhaarige.
«Sieht ja aus wie der Tod.«
«Er hat eine Rauferei hinter sich«, bemerkte der Arzt.
«Hat er das gesagt, Sir?«Der Dunkelhaarige lachte.
Ich sah auf meine nicht nur drückenden, sondern auch demütigenden Handschellen.
«Was hat er denn getan?«fragte der Arzt.
«Ehm«, antwortete der Rote,»er soll uns bei der Untersuchung des Überfalls auf einen Trainer helfen, bei dem er beschäftigt war. Der Mann ist noch nicht wieder bei Bewußtsein, und einem anderen, der bei ihm war, wurde der Schädel eingeschlagen.«
«Tot?«
«Soweit wir unterrichtet sind, ja. Wir waren nicht selbst am Tatort, aber da soll es wüst aussehen. Wir sind von Clavering hergeschickt worden, um den Mann abzuholen, weil der Rennstall zu unserem Bezirk gehört, und nach Clavering bringen wir ihn auch.«
«Sie sind ihm aber schnell auf die Spur gekommen«, meinte der Arzt.
«Ja«, sagte der Rote befriedigt.»Die Jungs waren auf Draht. Vor einer halben Stunde hat eine Frau von hier bei der Polizei in Durham angerufen und unseren Mann da beschrieben, und als dann aus Clavering die Sache mit dem Rennstall gemeldet wurde, hat jemand die beiden Beschreibungen miteinander in Verbindung gebracht und uns Bescheid gesagt. Wir sollten also mal nachsehen, und hoppla, da stand sein Motorrad samt richtiger Zulassungsnummer und allem unten in der Einfahrt.«
Ich hob den Kopf. Der Arzt sah mich an. Er war enttäuscht, ernüchtert. Er zuckte die Achseln und sagte müde:
«Man sieht es einem eben nicht an. Mir kam er nicht wie ein Schläger vor… und jetzt das. «Er wandte sich ab und griff nach seiner Tasche.
Mir war es auf einmal zuviel. Widerspruchslos hatte ich mich von allen Seiten verachten lassen. Jetzt konnte ich nicht mehr.
«Ich habe mich nur zur Wehr gesetzt«, sagte ich.
Der Arzt drehte sich halb zu mir um. Ich wußte nicht, warum es mir wichtig war, ihn zu überzeugen, aber mir lag daran.
Der dunkelhaarige Polizist zog eine Braue hoch und meinte zu dem Arzt:»Der Trainer war sein Arbeitgeber, Sir, und der Erschlagene, soviel ich gehört habe, ein begüterter Mann, dessen Pferde dort trainiert wurden. Der Futtermeister hat die Polizei verständigt. Er sah Roke auf dem Motorrad davonbrausen und wunderte sich, weil Roke gestern entlassen worden war, und als er dem Trainer deswegen Bescheid sagen wollte, fand er ihn neben dem Toten bewußtlos in seinem Büro.«
Der Arzt hatte genug gehört. Er ging hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen. Was sollte es? Am besten folgte ich dem Rat des Rotschopfs, schluckte alles runter und blieb ruhig.
«Dann mal los, Sportsfreund«, sagte der Dunkelhaarige. Sie standen wieder voll Anspannung vor mir, feindselig und wachsam.
Ich stand langsam auf. Langsam, weil ich kaum noch die Kraft dazu aufbrachte und weil ich nicht klappriger und mitleidheischender wirken wollte als nötig. Aber es ging. Als ich stand, fühlte ich mich auch im Kopf gleich besser, weil ich mich nicht mehr zwei bedrohlich großen Polizisten gegenübersah, sondern zwei normalgroßen jungen Männern, die ihre Pflicht taten und auf keinen Fall etwas verbocken wollten.
Für sie lief es allerdings umgekehrt. Wahrscheinlich hatten sie sich einen Pferdepfleger unbewußt kleinwüchsig vorgestellt, aber das war ich nun nicht. Sie wurden merklich aggressiver, und ich begriff, daß ich ihnen unter den gegebenen Umständen, noch dazu in Schwarz, wahrscheinlich etwas gefährlich vorkam — daß sie, mit einem Wort von Terence, meinten, ich sei schwer zu handhaben.
Ich legte keinen Wert darauf, noch mehr Prügel zu beziehen, erst recht nicht von seiten der Polizei.
«Hören Sie«, seufzte ich,»ich mache Ihnen keine Schwierigkeiten.«
Aber sie hatten den Auftrag, einen Mann festzunehmen, der ausgerastet war und jemanden erschlagen hatte, und sie gingen kein Risiko ein. Der Rote packte mich am rechten Oberarm und stieß mich zur Tür, und sobald wir auf dem Gang waren, packte mich der Dunkelhaarige am linken.
Auf der ganzen Länge des Korridors standen Mädchen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich. Ich blieb abrupt stehen. Die Polizisten stießen mich weiter. Die Mädchen starrten uns an.