Und jetzt schien es, als ob diese Schwertwunde das schädliche, brandige Gift, das seine Seele verdarb, ausgespuckt hätte.
Jetzt konnte die Wunde heilen. Die Trauer um Flints Tod war wie ein lindernder Balsam, der ihn an die Rechtschaffenheit, an die höheren Werte erinnerte. Endlich fühlte Tanis sich von den dunklen Schatten seiner Schuld befreit. Was immer auch geschehen war, er hatte immer sein Bestes getan, um zu helfen und die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Er hatte Fehler begangen, aber er konnte sich jetzt vergeben.
Vielleicht sah Berem dies in Tanis' Augen. Gewiß sah er Trauer, sah Mitgefühl. Dann sagte Berem plötzlich: »Ich bin müde, Tanis.« Seine Augen waren auf die vom Weinen geröteten Augen des Halb-Elfen gerichtet. »Ich bin so müde.« Sein Blick fuhr zu dem schwarzen Steinbecken. »Ich... ich beneide deinen Freund. Er hat jetzt seine Ruhe. Er hat Frieden gefunden. Darf ich das niemals haben?« Berem ballte seine Fäuste, dann erschauderte er und vergrub seinen Kopf in seinen Händen. »Aber ich habe Angst! Ich sehe das Ende – es ist sehr nahe. Und ich habe Angst!«
»Wir haben alle Angst.« Tanis seufzte, rieb seine brennenden Augen. »Du hast recht – das Ende ist nahe, und es scheint voller Dunkelheit zu sein. Du trägst in dir die Antwort, Berem.«
»Ich... ich werde euch sagen... was ich weiß«, sagte Berem zögernd, als ob die Worte aus ihm herausgezogen würden.
»Aber ihr müßt mir helfen!« Seine Hand klammerte sich um Tanis'. »Ihr müßt versprechen, mir zu helfen!«
»Ich kann es nicht versprechen«, sagte Tanis streng, »bis ich nicht die Wahrheit weiß.«
Berem setzte sich und lehnte seinen Rücken an den blutverschmierten Stein. Die anderen setzten sich zu ihm, zogen ihre Umhänge enger um sich, da Wind aufkam und an den Gebirgsseiten herunterpfiff und zwischen den seltsamen Findlingen heulte. Sie hörten sich Berems Geschichte an, ohne ihn zu unterbrechen, nur Tolpan wurde gelegentlich von einem Weinanfall geschüttelt und schneuzte sich leise; sein Kopf ruhte an Tikas Schulter.
Zuerst war Berems Stimme leise, seine Worte kamen widerstrebend. Manchmal sahen sie, wie er mit sich kämpfte, dann wieder stieß er die Worte aus, als ob sie schmerzen würden.
Aber allmählich sprach er schneller und schneller, die Erleichterung, nach all den Jahren endlich die Wahrheit zu erzählen, überflutete seine Seele.
»Als... als ich sagte, ich würde verstehen, wie du«, er nickte Caramon zu, »dich fühlst... einen Bruder verloren zu haben, meinte ich es ernst. Ich... ich hatte eine Schwester. Wir... wir waren keine Zwillinge, aber wir waren vermutlich so verbunden wie Zwillinge. Sie war nur ein Jahr jünger als ich. Wir lebten abgeschieden auf einem kleinen Bauernhof außerhalb von Neraka. Keine Nachbarn. Meine Mutter brachte uns zu Hause Lesen und Schreiben bei, es reichte, um durchzukommen. Wir haben überwiegend auf dem Hof gearbeitet. Meine Schwester war mein einziger Gefährte, mein einziger Freund. Und ich war es für sie.
Sie hat schwer gearbeitet – zu schwer. Nach der Umwälzung blieb uns nichts anderes übrig, damit wir etwas zu essen hatten.
Unsere Eltern waren alt und krank. Im ersten Winter wären wir beinahe verhungert. Egal, was ihr über die Hungerzeiten gehört habt, ihr könnt es euch nicht vorstellen.« Seine Stimme erstarb, seine Augen verdunkelten sich. »Ausgehungerte Rudel wilder Bestien und herumirrende Haufen von Männern streiften durch das Land. Da wir abgeschieden lebten, hatten wir mehr Glück als manch andere. Aber viele Nächte blieben wir auf, Prügelstöcke in unseren Händen, wenn die Wölfe um das Haus schlichen und warteten... Ich beobachtete meine Schwester, ein hübsches kleines Ding, wie sie alt wurde, bevor sie zwanzig Jahre alt war. Ihr Haar war so grau wie meines jetzt, ihr Gesicht verhärmt und runzlig. Aber sie hat sich nie beklagt.
In jenem Frühling wurde es nicht viel besser. Aber zumindest hatten wir Hoffnung, so sagte jedenfalls meine Schwester. Wir konnten Samen setzen und ihnen beim Wachsen zusehen. Wir konnten auf die Jagd gehen, da das Wild mit dem Frühling zurückgekehrt war. Es würde genug zu essen geben. Sie liebte die Jagd. Sie konnte gut mit Pfeil und Bogen umgehen, und sie war alles andere als ein Stubenhocker. Wir gingen oft gemeinsam weg. An jenem Tag...«
Berem stockte. Er schloß die Augen, schüttelte sich, als ob ihm eiskalt wäre. Dann biß er seine Zähne zusammen und fuhr fort.
»An jenem Tag gingen wir weiter als üblich. Ein durch ein Blitz entstandenes Feuer hatte das Unterholz weggebrannt, und wir stießen auf einen Pfad, den wir niemals zuvor gesehen hatten. Wir hatten beim Jagen kein Glück gehabt und folgten dem Pfad, hofften, Wild zu finden. Aber nach einer Weile sah ich, daß es kein Tierpfad war. Es war ein uralter Pfad, von Menschen geschaffen; er war seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Ich wollte umkehren, aber meine Schwester wollte weitergehen, neugierig, wohin er uns führen würde.«
Berems Gesicht verkrampfte sich zunehmend. Einen Moment lang befürchtete Tanis, daß er mit seiner Geschichte aufhören würde, aber Berem fuhr wie im Fieber, wie angetrieben, fort.
»Er führte uns zu einem... einem seltsamen Platz. Meine Schwester sagte, daß dort früher ein Tempel gestanden haben müßte, ein Tempel für die bösen Götter. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß dort zerbrochene Säulen herumlagen, überwuchert von Unkraut. Sie hatte recht. Dieser Platz hatte etwas Verruchtes, und wir hätten umkehren sollen. Wir hätten diesen bösen Platz verlassen sollen...« Berem wiederholte diesen Satz mehrere Male. Dann fiel er in Schweigen.
Niemand bewegte sich oder sprach, und nach einem Moment redete er so leise weiter, daß die anderen gezwungen waren, näherzurücken, um ihn zu verstehen. Und da wurde ihnen allmählich bewußt, daß er vergessen hatte, daß sie da waren oder wo er überhaupt war. Er war in jene Zeit zurückgekehrt.
»Aber in diesen Ruinen gibt es einen wunderschönen, wunderschönen Gegenstand: den Sockel einer umgestürzten Säule, mit Juwelen übersät!« Berems Stimme wurde vor Ehrfurcht leise. »Niemals habe ich solch eine Schönheit gesehen! Oder solch einen Reichtum! Wie kann ich das zurücklassen? Nur ein Juwel! Ein Juwel wird uns reich machen! Wir könnten in die Stadt ziehen! Meine Schwester wird Freier haben, so wie sie es verdient. Ich... ich falle auf die Knie und hole mein Messer hervor. Da ist ein Juwel – ein grüner Juwel -, der so hell in der Sonne glänzt! So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen! Den will ich. Ich stoße die Messerklinge in den Stein unterhalb des Juwels und fange an, ihn herauszugraben. Meine Schwester schreit mich an, aufzuhören. ›Dieser Ort ist heilig‹, bittet sie. ›Die Juwelen gehören einem Gott. Das ist Entweihung, Berem!‹«
Berem schüttelte den Kopf, sein Gesicht verdüsterte sich in der Erinnerung an die Wut.
»Ich ignoriere sie, obgleich ich eine Eiseskälte im Herzen spüre, als ich den Juwel herausschneide. Aber ich sage ihr, ›Wenn er den Göttern gehört, so haben sie ihn verlassen, so wie sie uns verlassen haben!‹ Aber sie hört nicht zu.«
Berems Augen flackerten auf, sie waren nun kalt und beängstigend anzusehen. Seine Stimme kam aus weiter Ferne.
»Sie packt mich! Ihre Fingernägel graben sich in meinen Arm. Es tut weh!
›Hör auf, Berem!‹ befiehlt sie mir – mir, ihrem älteren Bruder! ›Ich werde dich nicht entweihen lassen, was den Göttern gehört!‹
Wie kann sie es wagen, so mit mir zu reden? Ich tue es doch für sie! Für unsere Familie! Sie soll mir nicht in die Quere kommen! Sie weiß, was passieren kann, wenn ich rasend werde. Etwas bricht in meinem Kopf entzwei, durchflutet mein Gehirn.
Ich kann weder denken noch sehen. Ich schreie sie an, ›Laß mich in Ruhe!‹ Aber ihre Hand greift nach meiner Hand, in der ich das Messer halte, so daß die Klinge verrutscht und den Juwel kratzt.«
Berems Augen blitzten in einem wahnsinnigen Licht auf. Caramon legte verstohlen seine Hand an seinen Dolch, als sich die Hände des Mannes zu Fäusten zusammenballten und seine Stimme zu einem fast hysterischen Ton anstieg.