Plötzlich stolperte Tanis und stürzte. Dabei stellte er seiner Wache ein Bein, die kopfüber in den Staub fiel.
»Hoch mit dir, Abschaum!« Fluchend schlug die andere Wache Tanis mit dem Griff einer Peitsche übers Gesicht. Der HalbElf sprang die Wache an, packte die Hand mit dem Peitschengriff, riß und zog mit seiner ganzen Kraft, und die plötzliche Bewegung ließ die Wache zu Boden gehen. Eine halbe Sekunde lang war er frei.
Er rannte nach vorn, sich der Wachen bewußt, sich auch Caramons erstaunten Gesichtes bewußt. Tanis warf sich vor die königliche Gestalt auf dem blauen Drachen.
»Kitiara!« schrie er, gerade als die Wachen nach ihm griffen.
»Kitiara!« schrie er aus vollem Halse. Gegen die Wachen kämpfend, schaffte er es, eine Hand loszubekommen. Er riß seinen Helm vom Kopf und schleuderte ihn auf den Boden.
Die Drachenfürstin in der nachtblauen Drachenschuppenrüstung schaute sich um, als sie ihren Namen hörte. Tanis konnteerkennen, wie sich ihre braunen Augen unter der entsetzlichen Drachenmaske vor Verblüffung weiteten. Er sah auch die feurigen Augen des blauen Drachen, die ihn finster anstarrten.
»Kitiara!« schrie Tanis. Er schüttelte die Wachen mit verzweifelter Kraft und schob sich weiter nach vorn. Aber Drakonier in der Menge warfen sich auf ihn, schlugen ihn zu Boden, hielten seine Arme fest. Dennoch kämpfte Tanis weiter, krümmte sich, um in die Augen der Drachenfürstin zu sehen.
»Halt, Skie«, sagte Kitiara, legte dabei ihre behandschuhte Rechte befehlend auf den Hals des Drachen. Skie hielt gehorsam an, seine Klauenfüße glitten leicht über die Pflastersteine der Straße, Aber die Augen des Drachen waren mit Eifersucht und Haß erfüllt, als er auf Tanis starrte.
Tanis hielt den Atem an. Sein Herz schlug pochend. Sein Kopf schmerzte, und Blut tropfte in ein Auge, aber er bemerkte es nicht. Er wartete auf den Schrei, der ihm sagen würde, daß Tolpan nicht verstanden hatte, daß seine Freunde versuchen würden, ihm zur Hilfe zu eilen. Er wartete, daß Kitiara hinter ihn sehen und Caramon, ihren Halbbruder, erkennen würde. Er wagte nicht, sich nach seinen Gefährten umzudrehen. Er konnte nur hoffen, daß Caramon genügend Verstand und Vertrauen zu ihm hatte und außer Sichtweite blieb.
Und jetzt kam der Hauptmann, sein grausames, einäugiges Gesicht vor Wut verzerrt. Er hob seinen gestiefelten Fuß, um gegen Tanis' Kopf zu treten, um diesen aufdringlichen Störenfried ohnmächtig zu schlagen.
»Halt«, sagte eine Stimme.
Der Hauptmann hielt so plötzlich inne, daß er das Gleichgewicht verlor.
»Laßt ihn los.« Dieselbe Stimme.
Widerstrebend ließen die Wachen Tanis los und wichen auf eine herrische Geste der Finsteren Herrin hin zurück.
»Was ist so wichtig, Kommandant, daß du meinen Einzug unterbrichst?« fragte sie kühl, ihre Stimme klang hinter dem Drachenhelm tief und verzerrt.
Tanis stolperte auf die Füße, geschwächt, aber erleichtert,den Kopf benommen von den Kämpfen mit den Wachen, und trat näher zu Kitiara, Als er näher kam, sah er ein amüsiertes Aufflackern in ihren braunen Augen. Sie genoß es, ein neues Spiel mit einem alten Spielzeug. Tanis räusperte sich und sprach kühn.
»Diese Idioten haben mich wegen Desertion verhaftet«, erklärte er, »alles nur, weil dieser schwachsinnige Bakaris vergessen hat, mir die notwendigen Papiere zu geben.«
»Ich werde dafür sorgen, daß derjenige dafür bestraft wird, daß er dir Schwierigkeiten gemacht hat, guter Tanthalasa«, erwiderte Kitiara. Tanis konnte aus ihrer Stimme das Lachen heraushören. »Wie kannst du es wagen?« fügte sie hinzu, zum Hauptmann gewandt, den sie finster anblickte. Er krümmte sich, als das behelmte Antlitz sich ihm zuwandte.
»Ich...ich habe nur An...anweisungen befolgt, meine Fürstin«, stotterte er, sich wie ein Goblin schüttelnd.
»Verschwinde, oder ich verfüttere dich an meinen Drachen«, befahl Kitiara gebieterisch mit einer Handbewegung. Dann streckte sie mit der gleichen anmutigen Geste ihre behandschuhte Hand nach Tanis aus. »Kann ich dir einen Ritt anbieten, Kommandant? Als Wiedergutmachung natürlich.«
»Danke, Fürstin«, sagte Tanis.
Tanis warf dem Hauptmann einen finsteren Blick zu, dann nahm er Kitiaras Hand und schwang sich zu ihr auf den Rücken des blauen Drachen. Seine Augen durchsuchten schnell die Menge, während Kitiara Skie befahl, weiterzugehen. Einen Moment lang konnte er nichts erkennen, dann seufzte er erleichtert auf, als er sah, daß Caramon und die anderen von den Wachen weggeführt wurden. Als sie vorbeikamen, sah der große Mann zu ihm mit einem verletzten und verwirrten Gesichtsausdruck hoch. Aber er ging weiter. Entweder hatte Tolpan ihm schon die Botschaft übermittelt, oder der Mann war selbst vernünftig genug, um das Spiel weiterzuspielen. Oder vielleicht vertraute Caramon ihm sowieso. Tanis wußte es nicht. Seine Freunde waren jetzt in Sicherheit – zumindest sicherer, als wenn sie mit ihm zusammen gewesen wären.Es könnte das letzte Mal sein, daß ich sie sehe, fiel ihm plötzlich schmerzhaft ein. Dann schüttelte er den Kopf. Er durfte so etwas nicht denken. Er drehte sich um und bemerkte, daß Kitiaras braune Augen ihn mit einer merkwürdigen Mischung von List und unverhüllter Bewunderung musterten.
Tolpan stand auf Zehenspitzen, um zu sehen, was aus Tanis wurde. Er hörte Schreie, dann war es einen Moment lang ruhig.
Dann sah er den Halb-Elfen auf den Drachen klettern und sich neben Kitiara setzen. Die Prozession wurde fortgesetzt. Der Kender hatte den Eindruck, daß Tanis in seine Richtung sah, aber wenn das stimmte, dann ohne ihn zu erkennen. Die Wachen stießen die verbliebenen Gefangenen durch die schubsende Menge, und Tolpan verlor seinen Freund aus den Augen.
Eine Wache stieß Caramon mit einem Kurzschwert in die Rippen.
»Dein Kumpel wird also von der Fürstin mitgenommen, während du im Gefängnis verrotten darfst«, sagte der Drakonier kichernd.
»Er wird mich nicht vergessen«, murmelte Caramon.
Der Drakonier grinste und stieß seinen Partner an, der Tolpan zu sich zog, eine Klauenhand klammerte sich an den Kragen des Kenders. »Sicher wird er zu dir zurückkommen – wenn er es schafft, aus ihrem Bett herauszukommen!«
Caramon errötete. Tolpan warf dem Krieger einen beunruhigten Blick zu. Der Kender hatte noch keine Gelegenheit gehabt, Caramon Tanis' letzte Botschaft mitzuteilen, und er befürchtete, daß der Krieger alles ruinieren könnte, obwohl sich Tolpan nicht sicher war, was man eigentlich noch ruinieren konnte. Trotzdem...
Aber Caramon schüttelte in verletzter Würde den Kopf.
»Vor Abendanbruch bin ich draußen«, knurrte er. »Wir haben soviel zusammen erlebt. Er läßt mich nicht im Stich.«
Tolpan, der einen nachdenklichen Ton in Caramons Stimme hörte, zappelte vor Ungeduld und Verlangen, in Caramons Nähe zu kommen, um ihm alles zu erklären. Aber in diesem Moment schrie Tika vor Wut auf. Tolpan drehte den Kopf und sah, daß eine Wache an ihrer Bluse riß; an ihrem Hals waren bereits blutige Wunden von seinen Klauenhänden. Caramon schrie, aber zu spät. Tika schlug in bester Wirtshaustradition mit dem Handrücken in das Reptiliengesicht.
Wütend schleuderte der Drakonier Tika auf die Straße und hob seine Peitsche. Tolpan hörte Caramon den Atem anhalten, und der Kender krümmte sich, bereitete sich auf das Ende vor.
»He! Verunstalte sie nicht!« brüllte Caramon. »Falls du dafür nicht verantwortlich gemacht werden willst. Fürstin Kitiara hat uns für sie sechs Silbermünzen versprochen, und wir werden sie bestimmt nicht bekommen, wenn sie so zugerichtet wird!«
Der Drakonier zögerte. Caramon war ein Gefangener, das stimmte. Aber die Wachen hatten alle gesehen, wie sein Freund von der Finsteren Herrin herzlich willkommen geheißen wurde. Sollten sie es wagen, einen weiteren Mann zu beleidigen, der vielleicht hoch in ihrer Gunst stand? Offenbar konnten sie es nicht. Sie zogen Tika grob auf die Füße und schoben sie weiter.
Tolpan atmete erleichtert auf, dann warf er einen besorgten Blick auf Berem, der die ganze Zeit sehr ruhig gewesen war. Er hatte recht. Berem hätte sich in einer anderen Welt befinden können. Seine Augen waren weit aufgerissen und zu einem seltsamen Blick erstarrt. Sein Mund war halb offen, er wirkte fast wie ein Schwachsinniger. Zumindest sah er nicht wie jemand aus, der Ärger erregen würde. Caramon spielte scheinbar seine Rolle weiter, und mit Tika war alles in Ordnung. Im Moment brauchte ihn also keiner. Vor Erleichterung aufseufzend begann sich Tolpan interessiert im Tempelareal umzusehen, zumindest soweit es mit dem Drakonier, der an seinem Kragen hing, möglich war.