Er bereute es. Neraka war genauso, wie es aussah – ein kleines, uraltes, verarmtes Dorf, für jene gebaut, die den Tempel bewohnten, jetzt von den Zelten überrannt, die wie Pilze aus dem Boden geschossen waren.
Am anderen Ende des Anwesens ragte der Tempel wie ein Raubvogel über die Stadt – das verzerrte, verunstaltete, abscheuliche Bauwerk schien sogar die Berge am Horizont zu beherrschen. Sobald man seinen Fuß auf diesen Platz setzte, gingen die Augen zunächst zum Tempel. Danach war es egal, wohin man sah oder womit man beschäftigt war, denn der Tempel war überall, selbst in der Nacht, selbst in den Träumen.
Tolpan sah nur einmal hin, dann blickte er eilig weg, eine eisige Übelkeit stieg in ihm hoch. Aber der Anblick vor ihm war fast noch schlimmer. Die Zeltstadt war mit Soldaten überfüllt.
Drakonier und menschliche Söldner, Goblins und Hobgoblins drängten sich in den eiligst gebauten Bars und Bordellen bis auf die schmutzigen Straßen. Sklaven aller Rassen waren hierher gebracht worden, um ihren Herren zu dienen und für ihre ruchlosen Vergnügungen zu sorgen. Gossenzwerge schwärmten wie Ratten umher, sich von Abfällen ernährend. Der Gestank war überwältigend, der Anblick mutete wie eine Szene aus der Hölle an. Trotz Mittagszeit war der Platz dunkel und kühl wie in der Nacht. Als Tolpan hochspähte, sah er die riesigen Fliegenden Zitadellen, die in entsetzlicher Erhabenheit über dem Tempel schwebten, Drachen umkreisten sie in unermüdlicher Wachsamkeit.
Als sie anfangs durch die bevölkerten Straßen gingen, hatte Tolpan auf eine Gelegenheit gehofft zu entkommen. Er war ein Experte darin, mit der Menge zu verschmelzen. Er bemerkte, daß sich auch Caramon umsah; der Krieger schien das gleiche zu denken. Aber nachdem sie nur wenige Blöcke weit gegangen waren, nachdem er die wachsamen Zitadellen gesehen hatte, erkannte Tolpan die Hoffnungslosigkeit eines Fluchtunterfangens. Offenbar war Caramon zu dem gleichen Schluß gelangt, denn die Schultern des Kriegers sackten zusammen.
Entsetzt und verängstigt dachte Tolpan plötzlich an Laurana, die hier gefangengehalten wurde. Die lebhafte und fröhliche Stimmung des Kenders schien schließlich durch die Schwere der Dunkelheit und des Unheils um ihn herum zerschmettert zu werden, eine Dunkelheit und ein Unheil, die er selbst in seinen schlimmsten Träumen nie für möglich gehalten hatte.Die Wachen drängten sie weiter, schoben und stießen ihren Weg frei durch betrunkene und raufende Soldaten, durch verstopfte und enge Gassen. Tolpan wußte nicht, wie er Tanis' Botschaft an Caramon weitergeben sollte. Dann waren sie gezwungen, anzuhalten, als ein Kontingent der Truppen der Dunklen Königin durch die Straßen marschierte. Jene, die nicht die Straße räumten, wurden von drakonischen Offizieren einfach zur Seite geschleudert oder niedergetrampelt. Die Wachen der Gefährten drückten sie eilig gegen eine zerbröckelnde Mauer und befahlen ihnen, sich nicht zu bewegen, bis die Soldaten passiert wären.
Tolpan fand sich zwischen Caramon und einem Drakonier eingequetscht wieder. Die Wache hatte ihren Griff um Tolpans Hand gelockert, offensichtlich dachte sie, daß nicht einmal ein Kender so dumm wäre, um in diesem Mob einen Fluchtversuch zu wagen. Obwohl Tolpan die schwarzen Reptilienaugen auf sich ruhen spürte, konnte er sich dicht genug zu Caramon winden, um mit ihm zu reden. Er hoffte, daß man sie nicht belauschte, und erwartete es auch nicht bei all dem Köpfeeinschlagen und Stiefelgestampfe.
»Caramon!« flüsterte Tolpan. »Ich habe eine Botschaft. Kannst du mich hören?«
Caramon bewegte sich nicht, sondern blickte starr nach vorn, sein Gesicht war unbewegt. Aber Tolpan sah ein Augenlid zucken.
»Tanis hat gesagt, du sollst ihm vertrauen!« fuhr Tolpan flüsternd fort. »Egal, was passiert. Und... und... du sollst weiterspielen... Ich glaube, das hat er gesagt.«
Tolpan sah Caramon die Stirn runzeln.
»Er hat in der Elfensprache geredet«, fügte Tolpan verstimmt hinzu. »Und es war schwer zu verstehen.«
Caramons Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.
Tolpan schluckte. Er schlängelte sich etwas näher, sich gegen die Mauer direkt hinter dem breiten Rücken des Kriegers drückend. »Dieser... Drachenfürst«, fragte der Kender zögernd.
»Das... war Kitiara, nicht wahr?«Caramon antwortete nicht. Aber Tolpan sah, daß sich die Kiefermuskeln des Mannes verkrampften, sah, daß ein Nerv an Caramons Hals zuckte.
Tolpan seufzte. Er vergaß, wo er war und hob seine Stimme, »du vertraust ihm doch, oder nicht, Caramon? Weil...«
Ohne Warnung drehte sich Tolpans drakonische Wache um und schlug dem Kender über den Mund, daß er gegen die Mauer geschleudert wurde. Benommen vor Schmerz sank Tolpan zu Boden. Ein dunkler Schatten beugte sich über ihn. Er konnte nicht erkennen, wer es war, und machte sich auf einen weiteren Schlag gefaßt. Dann spürte er starke, sanfte Arme, die ihn an seiner Wollweste hochhoben.
»Ich habe euch gesagt, sie nicht zu verunstalten«, knurrte Caramon.
»Pah! Ein Kender!« Der Drakonier spuckte.
Die Soldaten waren fast alle vorbeimarschiert. Caramon setzte Tolpan ab. Der Kender versuchte zu stehen, aber aus unerfindlichen Gründen glitt der Boden unter seinen Füßen weg.
»Es... tut mir leid«, hörte er sich murmeln. »Beine sind manchmal lustig...« Schließlich fühlte er sich in die Luft gehoben, und unter Protestgeschrei flog er wie ein Mehlsack über Caramons breite Schulter.
»Er hat einige Informationen«, sagte Caramon mit seiner tiefen Stimme. »Ich hoffe, ihr habt sein Gehirn nicht durcheinandergebracht, daß er sie verloren hat. Die Finstere Herrin wird darüber nicht erfreut sein.«
»Was für ein Gehirn?« gab der Drakonier verächtlich zurück, aber Tolpan konnte von seiner Position auf Caramons Rücken sehen, daß die Kreatur ein wenig erschüttert wirkte.
Sie setzten ihren Weg fort. Tolpans Kopf schmerzte entsetzlich, seine Wange brannte. Er fühlte mit seiner Hand. Blut klebte dort, wo die Klaue des Drakoniers sich in seine Haut gegraben hatte. Hunderte von Bienen schienen in seinem Gehirn zu summen. Die Welt schien langsam um ihn zu kreisen, ihm wurde übel, und auf Caramons gepanzertem Rücken durchgerüttelt zu werden, machte die Sache nicht besser.»Wie weit ist es noch?« Er konnte Caramons Stimme in seiner Brust vibrieren hören. »Dieser kleine Bastard ist schwer.«
Als Antwort streckte der Drakonier seine lange, knochige Klaue aus.
Mit großer Mühe gelang es Tolpan trotz Schmerz und Schwindel, den Kopf zu drehen. Er schaffte nur einen kurzen Blick, aber der reichte aus. Je näher sie dem Gebäude kamen, um so größer wurde es, bis es nicht nur die Augen, sondern auch die Gedanken ausfüllte.
Tolpan sank zurück. Er sah nur noch verschwommen und fragte sich benommen, warum es auf einmal so neblig wurde.
Das letzte, woran er sich erinnerte, waren die Worte: »Zu den Verliesen... unter dem Tempel Ihrer Majestät, Takisis, Königin der Finsternis.«
6
Tanis verhandelt. Gakhan untersucht
»Wein?«
»Nein.«
Kitiara zuckte mit den Schultern. Sie nahm den Krug aus der Eisschale und goß sich ein Glas ein. Dabei beobachtete sie müßig, wie die blutrote Flüssigkeit aus der Kristallkaraffe in das Glas lief. Dann stellte sie die Karaffe sorgfältig in das Eis zurück, setzte sich Tanis gegenüber und musterte ihn kühl.
Sie hatte nur den Drachenhelm abgenommen, die Rüstung trug sie noch – die nachtblaue Rüstung mit Goldverzierungen, die an ihrem geschmeidigen Körper wie eine Schuppenhautsaß. Das Licht der vielen Kerzen im Zimmer glänzte auf der polierten Oberfläche. Ihr dunkles, schweißnasses Haar lockte sich um ihr Gesicht. Ihre braunen Augen, von langen, dunklen Wimpern beschattet, funkelten hell wie Feuer.