»N...nichts, Caramon, ehrlich!« keuchte Tolpan. »Er...er ist verrückt!«Berem schien in der Tat den Verstand verloren zu haben.
Den Schmerz nicht beachtend, warf er sich gegen die Eisenstangen, um sie aufzubrechen. Als das nicht funktionierte, griff er mit seinen Händen an die Stangen und versuchte, sie auseinanderzubiegen.
»Ich komme, Jasla!« schrie er. »Geh nicht! Vergib...«
Der Gefängniswärter lief beunruhigt und mit weit aufgerissenen Schweinsäuglein zu der Treppe und schrie etwas nach oben.
»Er ruft die Wachen!« knurrte Caramon. »Wir müssen Berem zur Ruhe bringen. Tika...«
Aber das Mädchen war bereits an Berems Seite. Sie hielt ihn an seinen Schultern fest und redete beruhigend auf ihn ein. Zuerst schenkte der rasende Mann ihr keine Beachtung, schüttelte sie grob von sich. Aber Tika streichelte und besänftigte ihn, bis er sie schließlich zu hören schien. Er hörte auf, an der Zellentür zu rütteln, und stand still da, seine Hände hielten die Stangen umklammert. Der Bart war auf den Boden gefallen, sein Gesicht war schweißnaß, und er blutete aus einer Wunde am Kopf.
Am Eingang des Verlieses klapperte es, als zwei Drakonier auf die Rufe des Gefängniswärters die Stufen herunterstürzten.
Mit ihren gezogenen Krummschwertern näherten sie sich, vom Wärter gefolgt, dem engen Korridor. Schnell nahm Tolpan den Bart und stopfte ihn in einen seiner Beutel in der Hoffnung, daß sich niemand daran erinnern würde, daß Berem vorher einen Bart getragen hatte.
Tika, die immer noch Berem besänftigend streichelte, plapperte irgend etwas, was ihr gerade in den Sinn kam. Berem schien nicht auf sie zu achten, war aber zumindest ruhig.
Schweratmend starrte er mit glasigen Augen in die gegenüberliegende leere Zelle. Tolpan konnte die Muskeln am Arm des Mannes krampfhaft zucken sehen.
»Was hat das zu bedeuten?« schrie Caramon die Drakonier an, die die Zellentür erreicht hatten. »Mich mit einem tobenden Ungeheuer einzusperren! Er hat versucht, mich zu töten! Ich verlange, daß ihr mich hier rausholt!«Tolpan, der Caramon scharf beobachtete, sah die schnelle, auf die Wachen gerichtete Handbewegung des Kriegers. Das Signal erkennend, spannte sich Tolpan, bereit zum Handeln.
Auch Tika machte sich bereit. Ein Hobgoblin und zwei Wachen ... Sie waren schon mit anderen Sachen fertiggeworden.
Die Drakonier sahen zu dem Gefängniswärter, der zögerte.
Tolpan konnte sich vorstellen, welche Gedanken durch den schwerfälligen Verstand der Kreatur gingen. Wenn dieser Offizier ein enger Freund der Finsteren Herrin war, dann würde sie wohl einem Gefängniswärter nicht freundlich gesinnt sein, der zuließ, daß dieser Freund in seiner Gefängniszelle umgebracht wird.
»Ich hole die Schlüssel«, murmelte der Gefängniswärter und watschelte zurück.
Die Drakonier begannen sich in ihrer Sprache zu unterhalten, offensichtlich tauschten sie große Kommentare über den Hobgoblin aus. Caramon warf Tika und Tolpan einen Blick zu und gab ihnen ein Signal zum Kampf. Tolpan fummelte in einem seiner Beutel, seine Hand schloß sich um sein kleines Messer. (Sie hatten seine Taschen durchsucht, aber immer bemüht, hilfsbereit zu sein, hatte Tolpan seine Taschen ständig vertauscht, bis die Wachen nach der vierten Durchsuchung der gleichen Tasche verwirrt aufgegeben hatten. Caramon hatte darauf bestanden, daß der Kender seine Beutel behalten sollte, da die Finstere Herrin sie untersuchen wollte. Wenn nicht, würden natürlich die Wachen dafür verantwortlich gemacht werden...) Tika kümmerte sich weiter um Berem, ihre gleichförmige Stimme brachte ein gewisses Maß an Frieden in seine fiebrig starrenden blauen Augen zurück.
Der Wärter hatte gerade die Schlüssel von der Wand genommen und wollte wieder zur Zelle gehen, als ihn eine Stimme von den oberen Stufen her aufhielt.
»Was willst du?« knurrte der Wärter gleichermaßen wütend wie erschreckt angesichts der vermummten Gestalt, die plötzlich und ohne Warnung aufgetaucht war.
»Ich bin Gakhan«, sagte die Stimme.Beim Anblick des Ankömmlings verstummten die Drakonier unverzüglich und nahmen respektvoll Haltung an, während der Hobgoblin kränklich grün anlief und die Schlüssel in seiner schlaffen Hand klirrten. Zwei weitere Wachen klapperten die Stufen herunter. Auf eine Handbewegung der verhüllten Gestalt hin blieben sie neben ihm stehen.
Die Gestalt ging an dem bebenden Hobgoblin vorbei und steuerte auf die Zellentür zu. Jetzt konnte Tolpan die Figur deutlich erkennen. Es war ein Drakonier in einer Rüstung mit einem dunklen Umhang, der sein Gesicht völlig verbarg. Der Kender biß sich vor Enttäuschung auf die Lippe. Nun, die Chancen standen immer noch nicht so schlecht – nicht für Caramon.
Der vermummte Drakonier ignorierte den stammelnden Wärter, der wie ein fetter Hund hinterhertrottelte, nahm eine Fackel von der Wand und baute sich vor der Gefängniszelle der Gefährten auf.
»Holt mich hier raus!« brüllte Caramon und stieß einen Ellbogen in Berems Seite.
Aber der Drakonier ignorierte Caramon, griff durch die Eisenstangen und legte eine Klauenhand an Berems Hemd. Tolpan warf Caramon einen verzweifelten Blick zu. Das Gesicht des Kriegers war leichenblaß. Er machte einen verzweifelten Sprung auf den Drakonier, aber es war zu spät.
Mit einem Ruck riß der Drakonier Berems Hemd in Fetzen.
Grünes Licht blitzte in der Gefängniszelle auf, als der Fackelschein auf den Edelstein in Berems Fleisch fiel.
»Er ist es«, sagte Gakhan ruhig. »Öffne die Zelle!«
Der Wärter fummelte mit zitternden Händen einen Schlüssel ins Schloß. Einer der Drakonier entriß den Schlüssel seiner Hand und öffnete die Zellentür, dann drangen sie hinein. Eine Wache schlug mit dem Schwertknauf auf Caramons Kopf, und der Krieger fiel wie ein Ochse um, während ein anderer Tika ergriff.
Gakhan betrat die Zelle.
»Tötet ihn«, der Drakonier zeigte auf Caramon, »und das Mädchen und den Kender.« Gakhan legte seine Klauenhandauf Berems Schulter. »Diesen nehme ich mit zu Ihrer Dunklen Majestät.« Der Drakonier warf den anderen einen triumphierenden Blick zu.
»In dieser Nacht ist der Sieg unser«, sagte er leise.
In seiner Drachenschuppenrüstung schwitzend stand Tanis neben Kitiara in einem der riesigen Vorzimmer der Großen Empfangshalle. Der Halb-Elf war von Kitiaras Soldaten umgeben, einschließlich den entsetzlichen Skelettkriegern des toten Ritters Fürst Soth. Diese standen im Schatten genau hinter Kitiara.
Obwohl das Vorzimmer überfüllt war und Kitiaras drakonische Soldaten sich Speer an Speer drängten, blieb um die untoten Krieger eine große Lücke. Niemand näherte sich ihnen, niemand sprach mit ihnen, sie sprachen zu niemandem. Und obgleich der Raum von den vielen Körpern drückend warm war, ging von ihnen eine Eiseskälte aus, die fast das Herz zum Stillstand brachte, wenn man ihnen zu nahe kam.
Tanis, der Fürst Soths flackernde Augen auf sich gerichtet spürte, konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Kitiara sah zu ihm hoch und lächelte, das verworfene Lächeln, das er einst unwiderstehlich gefunden hatte. Sie stand dicht bei ihm, ihre Körper berührten sich.
»Du wirst dich an sie gewöhnen«, sagte sie kühl. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Vorgänge in der riesigen Halle. Die dunkle Linie erschien zwischen ihren Augenbrauen, ihre Hand klopfte gereizt auf ihren Schwertknauf.
»Nun mach schon, Ariakus«, murmelte sie.
Tanis sah über ihren Kopf durch den verzierten Eingang, durch den sie gehen würden, wenn sie an der Reihe waren, und beobachtete mit einer Ehrfurcht, die er nicht verbergen konnte, das Spektakel, das sich ihm bot.
Die Empfangshalle von Takisis, Königin der Finsternis, vermittelte dem Beobachter zuerst das beeindruckende Gefühl seiner eigenen Minderwertigkeit. Dies war das schwarze Herz, das das dunkle Blut zum Fließen brachte, und in diesem Sinne paßte die Bauweise. Das Vorzimmer, in dem sie warteten,führte zu einem riesigen kreisrunden Saal mit einem Fußboden aus poliertem schwarzen Granit. Der Boden setzte sich nach oben fort, um die Wände zu bilden, die sich in unregelmäßigen Kurven wie dunkle, im Lauf der Zeit eingefrorene Wellen erhoben. Es schien, als ob sie jeden Moment einstürzen und all jene in dieser Halle in Schwärze eintauchen würden. Es war nur die Macht Ihrer Dunklen Majestät, die sie in Schach hielten. Und so glitten die schwarzen Wellen zu einer hohen, gewölbten Decke, die aber nun durch einen feinen Nebel aufsteigender Rauchwölkchen – dem Atem von Drachen – verborgen war.