Die riesige Halle war jetzt leer, würde sich aber bald füllen, wenn die Soldaten ihre Positionen hinter den Thronen ihrer Fürsten eingenommen hätten. Diese Throne – es waren vier standen etwa drei Meter über dem glänzenden Granitboden.
Stabile gedrungene Zugänge führten von den konkaven Wänden zu schwarzen Steinzungen, die sich aus den Wänden streckten. Auf diesen vier riesigen Plattformen – zwei auf jeder Seite – saßen die Fürsten – und nur die Fürsten. Niemand sonst, nicht einmal die Leibwächter, durften jenseits der obersten Stufe der heiligen Plattformen stehen. Leibwächter und hochstehende Offiziere blieben auf den Stufen, die sich vom Boden nach oben zu den Thronen hinzogen wie die Rippen eines riesigen frühgeschichtlichen Tieres.
In der Mitte der Halle erhob steh eine weitere, etwas höhere Plattform, die sich wie eine Riesenschlange nach oben schlängelte, was sie auch darstellte. Eine schlanke Steinbrücke verlief von dem »Kopf« der Schlange zu einem weiteren Eingang an der Seite der Halle. Der Kopf war auf Ariakus und die in Dunkelheit gehüllte Nische über Ariakus gerichtet.
Der »Herrscher«, wie sich Ariakus bezeichnete, saß auf einer etwas höheren Plattform am Eingang der großen Halle.
Tanis fühlte seinen Blick unwiderstehlich von der Nische, die in den Stein über Ariakus' Thron gehauen war, angezogen. Sie war größer als alle anderen Nischen, und in ihr lauerte eine Dunkelheit, die wie lebendig schien. Sie atmete und pulsierte und war so intensiv, daß Tanis schnell wegsah. Obwohl ernichts erkannte, konnte er sich vorstellen, wer sich bald in diesem Schatten aufhalten würde.
Schaudernd wandte sich Tanis wieder der Halle zu. Es gab nicht viel zu sehen. Um die kuppelförmige Decke herum, in ähnlichen, aber kleineren Nischen als denen der Fürsten hatten sich die Drachen niedergelassen. Fast unsichtbar, eingehüllt in ihren qualmenden Atem, saßen diese Kreaturen den Nischen ihrer jeweiligen Fürsten gegenüber und wachten aufmerksam so vermuteten jedenfalls die Fürsten – über ihre »Herren«. Tatsächlich war nur ein Drache in der Versammlung wirklich über das Wohlergehen seines Herrn besorgt. Und das war Skie, Kitiaras Drache, der sogar jetzt, von seinem Platz aus, mit feurigen roten Augen auf den Thron von Ariakus starrte, mit der gleichen Intensität und weit deutlicherem Haß, als Tanis in den Augen von Skies Herrin gesehen hatte.
Ein Gong ertönte. Massen von Soldaten strömten in die Halle. Es waren Ariakus' Soldaten in der Farbe des roten Drachen. Hunderte von Klauen und gestiefelten Füßen scharrten über den Boden, als die Drakonier und menschliche Ehrenwachen eintraten und ihre Plätze hinter Ariakus' Thron einnahmen. Kein Offizier stieg die Stufen hoch, kein Leibwächter stellte sich in die Nähe seines Fürsten.
Dann trat der Fürst durch das Tor hinter seinem Thron. Er ging allein, seine purpurrote Herrscherrobe wallte majestätisch um seine Schultern, seine dunkle Rüstung glänzte im Fackelschein. Auf seinem Kopf glitzerte eine mit blutroten Juwelen übersäte Krone.
»Die Krone der Macht«, murmelte Kitiara, und jetzt sah Tanis in ihren Augen ein Gefühl – Verlangen, ein Verlangen, das er selten zuvor in menschlichen Augen gesehen hatte.
»Wer auch immer die Krone trägt, herrscht«, meldete sich eine Stimme hinter ihr. »So steht es geschrieben.«
Fürst Soth. Tanis versteifte sich, um nicht zu zittern, spürte die Gegenwart des Mannes wie eine kalte Skeletthand am Nakken.
Ariakus' Soldaten jubelten ihm laut und lange zu, stießenihre Speere auf den Boden, ließen ihre Schwerter an die Schilde prallen. Kitiara knurrte vor Ungeduld. Schließlich breitete Ariakus seine Hände um Ruhe aus. Er drehte sich um und kniete ehrfürchtig vor der dunklen Nische über sich nieder, dann gab das Oberhaupt der Drachenfürsten Kitiara herablassend ein Zeichen mit seiner behandschuhten Rechten.
Als Tanis ihr einen Blick zuwarf, sah er so viel Haß und Verachtung in ihrem Gesicht, daß er sie kaum wiedererkannte. »Ja, Fürst«, flüsterte Kitiara, ihre Augen waren nun dunkel und glänzend. »Wer auch immer die Krone trägt, herrscht. So steht es geschrieben... in Blut geschrieben!« Sie drehte ihren Kopf ein wenig zur Seite und gab Fürst Soth ein Zeichen. »Hol die Elfenfrau.«
Fürst Soth verbeugte sich und strömte wie ein böser Nebel aus dem Vorzimmer, seine Skelettkrieger folgten ihm. Drakonier stolperten übereinander in hektischen Bemühungen, aus seinem tödlichen Weg zu verschwinden.
Tanis packte Kitiara am Arm. »Du hast es versprochen!« sagte er mit erstickter Stimme.
Kitiara starrte ihn kalt an und riß ihren Arm ohne Anstrengung aus seinem festen Griff. Aber ihre braunen Augen hielten ihn fest, zogen und saugten das Leben aus ihm, bis er sich nur noch wie eine vertrocknete Hülle vorkam.
»Hör mir zu, Halb-Elf«, sagte Kitiara mit kalter, scharfer Stimme. »Ich bin an einer Sache interessiert und nur an einer an der Krone der Macht, die Ariakus trägt. Das ist der Grund, warum ich Laurana gefangengenommen habe, nur deshalb ist sie mir wichtig. Ich werde die Elfenfrau Ihrer Majestät vorführen, wie ich es versprochen habe. Die Königin wird mich belohnen – mit der Krone selbstverständlich -, und dann wird sie anordnen, die Elfe in die Todeskammern tief unter dem Tempel zu führen. Es interessiert mich nicht, was danach mit der Elfe passiert, und darum gebe ich sie dir. Auf mein Zeichen hin wirst du vortreten. Ich werde dich der Königin vorstellen. Bitte sie um einen Gefallen. Bitte sie, die Elfenfrau in die Todeskammer führen zu dürfen. Wenn sie von dir angetan ist, wird sie dir denWunsch erfüllen. Dann kannst du sie zu den Stadttoren oder wohin auch immer bringen und sie freilassen. Aber ich will dein Ehrenwort, Halb-Elf, daß du zu mir zurückkehrst.«
»Das hast du«, sagte Tanis, ihrem Blick standhaltend.
Kitiara lächelte. Ihr Gesicht entspannte sich. Es war wieder so schön, daß sich Tanis fragte, über die plötzliche Umwandlung verblüfft, ob er wirklich das andere, das grausame Gesicht gesehen hatte. Sie legte ihre Hand auf Tanis' Wange und streichelte seinen Bart.
»Ich habe dein Ehrenwort. Bei anderen Männern bedeutet es nicht unbedingt viel, aber ich weiß, du wirst es halten! Eine letzte Warnung, Tanis«, flüsterte sie schnell. »Du mußt die Königin überzeugen, daß du ihr loyaler Diener bist. Sie ist mächtig, Tanis! Sie ist eine Göttin, vergiß es nicht! Sie kann in dein Herz sehen, in deine Seele. Du mußt sie felsenfest davon überzeugen, daß du ihr gehörst. Eine Geste, ein falsch klingendes Wort, und sie wird dich zerstören. Dann werde ich nichts für dich tun können. Wenn du stirbst, wird auch deine Lauralanthalasa sterben!«
»Ich verstehe«, sagte Tanis. Ihm wurde eiskalt unter der kühlen Rüstung.
Ein schmetternder Trompetenruf ertönte.
»Das ist unser Signal«, sagte Kitiara. Sie streifte ihre Handschuhe über und setzte den Drachenhelm auf. »Geh nach vorn, Tanis. Führe meine Soldaten. Ich komme als letzte.«
In ihrer glitzernden nachtblauen Drachenschuppenrüstung prächtig anzusehen, trat Kitiara hochmütig zur Seite, als Tanis durch den verzierten Eingang in die Empfangshalle schritt.
Die Menge begann beim Anblick des blauen Banners zu jubeln. Oben in seiner Nische brüllte Skie triumphierend. Sich der unzähligen Augen um sich bewußt, zwang sich Tanis, nur an das zu denken, was er tun mußte. Er hielt seine Augen auf sein Ziel fixiert – die Plattform in der Halle neben der von Lord Ariakus, die Plattform, geschmückt mit dem blauen Banner.
Hinter sich hörte er das rhythmische Aufstampfen der Klauenfüße, als Kitiaras Ehrenwache stolz einmarschierte. Tanis er-reichte die Plattform und stellte sich auf die unterste Stufe, so wie Kitiara es befohlen hatte. Die Menge beruhigte sich, und dann, als der letzte Drakonier eingetreten war, erhob sich ein Murmeln in der Halle. Man reckte die Hälse, ungeduldig auf Kitiara wartend.