»Ich passe auf sie auf, Caramon!« versprach Tolpan und stürzte ihr nach, seine Beutel hüpften dabei wild auf und ab.
Caramon starrte ihnen einen Augenblick nach. Der Hobgoblinwärter kreischte vor Entsetzen auf, als Tika direkt auf ihn zurannte und dabei drohend ihr Schwert schwang. Der Wärter griff hektisch nach ihr, aber Tika hackte so wild und verzweifelt auf ihn ein, daß der Hobgoblin mit einem gurgelnden Schrei und durchschnittener Kehle tot umfiel.
Den Körper zu ihren Füßen ignorierend, eilte Tika weiter den Korridor in Östlicher Richtung entlang.
Tolpan, direkt hinter ihr, blieb einen Moment an der Treppe stehen. Er sah nun die Drakonier, und Caramon konnte die schrille Stimme des Kenders hören, die die Wachen verspottete.
»Hundefresser! Schleimblutige Goblinliebhaber!«
Dann flitzte Tolpan hinter Tika her, die aus Caramons Gesichtsfeld verschwunden war.
Die aufgebrachten Drakonier – angestachelt durch die Verwünschungen des Kenders und den Anblick der fliehenden Gefangenen – nahmen sich nicht die Zeit, in eine andere Richtung zu sehen. Sie verfolgten den leichtfüßigen Kender, ihre Krummschwerter glänzten, ihre langen Zungen zuckten in Vorfreude auf das Töten.
Binnen kurzem war Caramon mutterseelenallein. Er zögerte eine weitere kostbare Minute und starrte in die düsteren Zellen.
Er konnte nichts sehen. Er konnte nur noch Tolpan Hundefresser schreien hören. Dann war alles ruhig.
»Ich bin allein...«, dachte Caramon düster. »Ich habe alle verloren – alle verloren. Ich muß ihnen folgen.«
Er starrte zur Treppe, dann hielt er inne. »Nein, Berem ist da.Er ist auch allein. Tika hat recht. Er braucht mich jetzt. Er braucht mich.«
Caramon, der endlich wieder klar denken konnte, drehte sich um und lief schwerfällig in den nördlichen Korridor auf der Suche nach Berem.
8
Die Königin der Finsternis
»Drachenfürst Toede.«
Lord Ariakus lauschte mit träger Verachtung dem Aufrufen der Rangbezeichnungen. Nicht, daß ihn das Verfahren langweilte. Ganz im Gegenteil. Die Einberufung des Kriegsrats war zwar nicht seine Idee gewesen. In der Tat hatte er Einspruch dagegen erhoben. Aber er hatte darauf geachtet, nicht allzu heftig Einspruch zu erheben. Das hätte ihn schwach erscheinen lassen; und Ihre Dunkle Majestät ließ Schwächlinge nicht am Leben. Nein, dieser Kriegsrat würde alles andere als langweilig werden...Bei dem Gedanken an seine Dunkle Königin drehte er sich halb und blickte schnell zur Nische hoch. Ihr prächtiger Thron, der größte und wunderbarste in der ganzen Halle, war immer noch leer, das Tor war in der lebendigen, atmenden Dunkelheit nicht sichtbar. Keine Stufen führten zu diesem Thron. Das Tor war gleichzeitig Eingang und Ausgang. Und wohin das Tor führte, nun, es war besser, nicht daran zu denken. Unnötig zu sagen, daß kein Sterblicher jemals hinter diese eisernen Gitterstäbe getreten war.
Die Königin war noch nicht erschienen. Er war darüber nicht überrascht. Diese Eröffnungsrituale waren unter ihrer Würde.
Ariakus zog sich wieder in seinen Thron zurück. Sein Blick wanderte vom Thron der Dunklen Königin zu dem der Finsteren Herrin. Kitiara war hier, natürlich. Das war der Augenblick ihres Triumphes – so dachte sie jedenfalls. Ariakus verfluchte sie flüsternd.
»Laß sie ihr Schlimmstes anrichten«, murmelte er, nur halb lauschend, als der Feldwebel den Rang von Lord Toede noch einmal wiederholte. »Ich bin vorbereitet...«
Ariakus bemerkte plötzlich, daß etwas fehlte. Was? Was war passiert? Seinen Gedanken nachhängend, hatte er dem Zeremoniell keine Aufmerksamkeit geschenkt. Was war falsch?
Schweigen... ein fürchterliches Schweigen folgte... Was...? Er versuchte sich zu erinnern, was gerade gesagt worden war.
Dann fiel es ihm ein, und er starrte grimmig auf den zweiten Thron zu seiner Linken. Die Soldaten in der Halle, überwiegend Drakonier, hoben und senkten sich unter ihm wie ein Meer des Todes, als sich alle Augen zu diesem Thron bewegten.
Obwohl die Drakoniersoldaten aus Lord Toedes Kommando anwesend waren und sich ihre Banner mit den Bannern der anderen Drakonier vermischten, war der Thron selbst leer.
Tanis, der auf den Stufen zu Kitiaras Plattform stand, folgte Ariakus' strengem und kaltem Blick. Der Halb-Elf spitzte seine Ohren bei dem Namen Toede. Ein Bild des Hobgoblins tauchte vor ihm auf, so wie er ihn im Staub auf der Straße nach Solace gesehen hatte. Das Bild brachte Erinnerungen an jenen warmen Herbsttag zurück, der den Beginn seiner langen, dunklen Reise gewesen war. Es brachte Erinnerungen an Flint und Sturm zurück... Tanis biß die Zähne zusammen und zwang sich, seine Konzentration auf die Geschehnisse zu lenken. Die Vergangenheit war vorüber und – so hoffte er fieberhaft – auch bald vergessen.
»Lord Toede?« wiederholte Ariakus wütend. Die Soldaten in der Halle murmelten untereinander. Niemals zuvor hatte ein Fürst den Befehl mißachtet und nicht an dem Kriegsrat teilgenommen.
Ein menschlicher Offizier der Drachenarmee stieg die Stufen zu der leeren Plattform hoch. Auf der letzten Stufe blieb er stehen (das Protokoll verbot ihm, höher zu gehen), stammelte einen Moment voller Angst, als er jene schwarzen Augen und noch schlimmer – in die düstere Nische über Ariakus' Thron sah. Dann holte er tief Luft und begann mit seinem Bericht.
»Ich... ich bedaure, Ihrer Lordschaft und Ihrer D...dunklen Majestät mitteilen zu müssen«, ein nervöser Blick zu der Nische, die offenbar immer noch leer war, »daß Drachenfürst To...Toede ein unglückliches und unpassendes Ableben beschieden wurde.«
Tanis, der auf der obersten Stufe zur Plattform stand, wo Kitiara in ihrem Thron saß, hörte ein abfälliges Schnaufen unter Kits Drachenhelm. Ein amüsiertes Kichern fuhr durch die Menge, während die Offiziere der Drachenarmee wissende Blicke austauschten.
Lord Ariakus war jedoch alles andere als belustigt. »Wer hat es gewagt, einen Drachenfürsten zu töten«, fragte er zornig, und beim Klang seiner Stimme und im Begreifen der schlimmen Bedeutung seiner Worte fiel die Menge in Schweigen.
»Es war in K...Kenderheim, mein Fürst«, erwiderte der Offizier, und seine Stimme hallte in der riesigen Marmorhalle wider. Der Offizier verstummte. Selbst aus der Entfernung konnte Tanis sehen, wie der Mann seine Faust nervös öffnete und wieder schloß. Offensichtlich hatte er noch mehr schlechte Neuigkeiten mitzuteilen und zögerte, fortzufahren. Ariakus sah den Offizier finster an. Der Mann räusperte sich und sprach weiter.
»Ich bedaure, berichten zu müssen, mein Fürst, daß Kenderheim verl...« Einen Moment lang versagte die Stimme des Mannes völlig. Nur mit äußerster Kraftanstrengung gelang es ihm, den Satz zu beenden, »...verloren ist.«
»Verloren!« wiederholte Ariakus mit einer Stimme, die ein Donner gewesen sein könnte.
Offenbar wurde der Offizier von seiner Angst fast erschlagen. Zurückschreckend stammelte er einen Moment zusammenhanglos weiter, dann – offenbar entschlossen, die Sache hinter sich zu bringen, keuchte er hervor: »Drachenfürst Toede wurde von einem Kender namens Kronin Distelknot auf abscheuliche Weise umgebracht und seine Soldaten vertrieben...«
Ein tiefes Murmeln ging jetzt durch die Menge, zorniges und trotziges Knurren, wüste Drohungen wurden gegen Kenderheim ausgestoßen. Diese elende Rasse mußte vom Angesicht Krynns verschwinden...
Mit seiner behandschuhten Rechten machte Ariakus eine gereizte Geste. Sofort verstummten die Versammelten.
Und dann wurde das Schweigen gebrochen.
Kitiara lachte.
Es war ein fröhliches Lachen, hochmütig und höhnisch, und es hallte drohend unter den Tiefen der Metallmaske hervor.
Ariakus' Gesicht verzerrte sich vor Wut, und er erhob sich.
Er trat einen Schritt nach vorn. Stahl blitzte zwischen den Drakoniern auf, als die Schwerter aus ihren Scheiden gezogen wurden und die Speerenden auf den Boden dröhnten.