Bei diesem Anblick schlossen Kitiaras Soldaten ihre Reihen und traten näher zur Plattform ihrer Fürstin. Instinktiv legte sich Tanis' Hand fester um den Knauf seines Schwertes, und er trat eine Stufe höher, obgleich dies bedeutete, daß er seinen Fuß auf die Plattform setzte, wo er nicht stehen durfte.
Kitiara blieb ruhig sitzen und beobachtete Ariakus mit tiefster Verachtung.Plötzlich senkte sich über die Versammelten ein atemloses Schweigen, als ob der Atem jedes Anwesenden von einer unsichtbaren Kraft abgewürgt würde. Gesichter erblaßten, man versteifte sich, rang nach Luft. Lungen schmerzten, die Sicht verschwamm, das Herz hörte zu schlagen auf. Und dann schien die Luft aus der Halle aufgesogen zu werden, als eine Dunkelheit aufkam.
War es wirklich eine äußere Dunkelheit? Oder war es eine innere? Tanis war sich nicht sicher. Seine Augen sahen Tausende von Fackeln in der Halle hell flackern, er sah Tausende von Kerzen wie Sterne im Nachthimmel funkeln. Aber selbst der Nachthimmel war nicht dunkler als die Dunkelheit, die er jetzt wahrnahm.
Sein Kopf zerfloß. Verzweifelt versuchte er zu atmen, alles erinnerte ihn an seine Erlebnisse im Blutmeer von Istar. Seine Knie zitterten, er fühlte sich zu schwach, um zu stehen. Seine Kräfte verließen ihn, er taumelte und stürzte, und als er keuchend nach unten sank, bemerkte er andere, die auch auf den polierten Marmorboden fielen. Er hob seinen Kopf, obwohl die Bewegung eine Qual war, und sah Kitiara, die in ihren Thron rutschte, als ob eine unsichtbare Kraft sie hineinquetschte.
Dann hob sich die Dunkelheit. Kühle, süße Luft stürzte in Tanis' Lungen. Sein Herz begann wieder zu klopfen. Blut pulste in seinem Kopf, daß er fast ohnmächtig wurde. Einen Moment lang konnte er nicht anders, als wieder auf die Marmorstufen zurückzusinken, schwach und benommen, während in seinem Kopf Blitze explodierten. Als er wieder einigermaßen klar sehen konnte, bemerkte er, daß die Drakonier von all dem unberührt geblieben waren. Sie standen gleichmütig da, ihr Blick war auf einen Punkt fixiert.
Tanis hob seine Augen zu der prächtigen Plattform, die während der Eröffnungsrituale leer geblieben war. Jetzt war sie auch leer. Sein Blut gefor in seinen Adern, sein Atem stockte.
Takisis, Königin der Finsternis, hatte die Empfangshalle betreten.
Sie hatte viele Namen auf Krynn. Drachenkönigin hieß siebei den Elfen; Nilat, die Verderbte bei den Barbaren der Ebenen; unter Tamex, das Unechte Metall war sie bei den Zwergen in Thorbadin bekannt; in den Legenden bei den seefahrenden Leuten von Ergod wurde sie als Mai-tat der vielen Gesichter bezeichnet. Königin der vielen Farben und doch keiner nannten die Ritter von Solamnia sie; besiegt von Huma, vor langer Zeit von Krynn verbannt.
Takisis, Königin der Finsternis, war zurückgekehrt.
Aber nicht vollständig.
Selbst als Tanis zu der dunklen Form in der Nische über sich mit Ehrfurcht starrte, selbst als das Entsetzen durch sein Gehirn flutete, ihn betäubte und außer Ekel und Angst nichts zurückließ – selbst jetzt stellte er fest, daß die Königin nicht in ihrer körperlichen Form anwesend war. Es war, als ob ihre Anwesenheit in den Köpfen der Versammelten einen Schatten ihrer Existenz auf die Plattform warf. Sie selbst war nur da, weil ihr Wille die anderen zwang, sie wahrzunehmen.
Etwas hielt sie zurück, verhinderte ihren Eintritt in diese Welt. Eine Tür – Berems Worte fielen Tanis ein. Wo war Berem? Wo waren Caramon und die anderen? Tanis erkannte mit einem stechenden Schmerz, daß er die anderen über Kitiara und Laurana fast vergessen hatte. Sein Kopf drehte sich. Ihm war, als ob er den Schlüssel zu allem in seiner Hand hielt, wenn er nur Zeit hätte, in Ruhe darüber nachzudenken.
Aber das war nicht möglich. Die düstere Form nahm an Intensität zu, bis ihre Schwärze eine kalte Leere des Nichts in dem Granitsaal zu schaffen schien. Unfähig wegzusehen, war Tanis gezwungen, in diese fürchterliche Leere zu schauen, bis er das beängstigende Gefühl hatte, hineingezogen zu werden. In dem Moment vernahm er eine Stimme in seinem Bewußtsein.
Wir haben euch nicht zusammengeführt, um mitanzusehen, wie eure kleinlichen Streitereien und noch kleinlicheren Ambitionen den Sieg beeinträchtigen, der, wie wir spüren, immer näher kommt. Vergiß nicht, wer hier herrscht, Lord Ariakus!
Ariakus sank wie die anderen im Saal auf die Knie. Tanis fand sich selbst in Ehrerbietung auf die Knie fallend wieder. Erkonnte nicht anders. Obwohl er von Abscheu und Haß erfüllt war über dieses leidbringende, entsetzliche Böse, so war es doch eine Göttin, eine, die an der Entstehung der Welt mitgewirkt hatte. Seit Beginn der Zeit herrschte sie – und sie würde bis zum Ende der Zeit herrschen.
Die Stimme sprach weiter, brannte sich in sein Bewußtsein und in das Bewußtsein aller Anwesenden.
Fürstin Kitiara, du hast uns in der Vergangenheit sehr zufriedengestellt. Dein Geschenk an uns stellt uns noch zufriedener. Bring mir die Elfenfrau, daß wir sie uns ansehen und über ihr Schicksal entscheiden.
Tanis beobachtete Lord Ariakus, der zu seinem Thron zurückkehrte, aber nicht ohne Kitiara einen giftigen, haßerfüllten Blick zuzuwerfen.
»Das werde ich, Eure Dunkle Majestät.« Kitiara verbeugte sich und befahl Tanis, ihr zu folgen, als sie an ihm vorbeiging.
Ihre Drakoniersoldaten traten zurück, um ihr einen Weg zu bahnen. Kitiara stieg die rippenähnlichen Stufen der Plattform hinab, gefolgt von Tanis. Die Soldaten teilten sich, um sie durchzulassen, dann schlossen sich die Reihen gleich wieder.
Als Kitiara die Mitte des Saales erreichte, ging sie eine schmale Treppe hoch, deren Stufen wie Stacheln aus dem Rükken der Schlange hervortraten, bis sie mitten auf der marmornen Plattform stand. Tanis folgte langsamer, die Stufen waren schmal und schwer zu besteigen, besonders da er die Augen der dunklen Form in der Nische auf seiner Seele ruhen spürte.
Kitiara drehte sich um und machte eine Handbewegung zum verzierten Tor am anderen Ende der schmalen Brücke, die die Plattform mit den Hauptwänden der Empfangshalle verband.
Eine Gestalt erschien in der Tür – eine dunkle Gestalt, gekleidet in die Rüstung eines solamnischen Ritters. Fürst Soth betrat die Halle, und bei seinem Kommen wichen die Soldaten auf beiden Seiten der schmalen Brücke zurück, als ob eine Hand aus dem Grab griff und sie wegstieß. In seinen bleichen Armen trug Fürst Soth einen Körper, der in weißes Tuch gewickelt war. Das Schweigen im Saal war so intensiv, daß man die Fußtritte destoten Ritters auf dem Marmorboden hören konnte, obwohl alle den Stein durch den durchsichtigen, fleischlosen Körper sehen konnten.
Fürst Soth überquerte mit seiner weißumhüllten Last die Brücke und ging langsam weiter, bis er zum Kopf der Schlange gelangte. Auf eine weitere Handbewegung von Kitiara legte er das Bündel vor den Füßen der Drachenfürstin auf den Boden.
Dann erhob er sich und verschwand plötzlich, ließ alle vor Entsetzen blinzeln und sich fragen, ob er wirklich dagewesen oder nur ein Trugbild ihrer überhitzten Fantasien gewesen war.
Tanis konnte Kitiara unter ihrem Helm lächeln sehen, amüsiert über die Wirkung, die ihr Diener hervorgerufen hatte.
Dann zog sie ihr Schwert und beugte sich, um die ersten Bänder zu durchtrennen, in die die Gestalt wie in einen Kokon eingewickelt war. Dann trat sie zurück und beobachtete, wie ihre Gefangene in dem Netz kämpfte.
Tanis erblickte eine Woge von verheddertem, honigfarbenem Haar, das Aufblitzen einer Silberrüstung. Hustend, fast erstickt durch die einschnürenden Bänder kämpfte sich Laurana aus dem weißen Stoff frei. Verkrampftes Gelächter der Soldaten begleitete die schwachen, zappelnden Bewegungen der Gefangenen – dies war offenbar ein Hinweis auf weitere Belustigungen. Instinktiv trat Tanis einen Schritt vor, um Laurana zu helfen. Dann spürte er, daß Kitiaras braune Augen auf ihm ruhten, ihn beobachteten, ihn daran erinnerten...