»Das ist es!« stellte Fizban fest. »Wir sind angekommen.«
Der Halb-Elf sah sich an dem Ort um, der die Heimat der Götter genannt wurde.
»Nicht gerade der Ort, den ich zum Leben auswählen würde, wenn ich ein Gott wäre«, bemerkte Tolpan mit unterdrückter Stimme.
Tanis mußte ihm recht geben.
Sie standen am Rand einer kreisförmigen Vertiefung in der Mitte eines Berges. Tanis' erster Eindruck von der Heimat der Götter waren die überwältigende Trostlosigkeit und Leere des Platzes. Auf dem ganzen Weg im Gebirge hatten die Gefährten Anzeichen neuen Lebens gesehen: knospende Bäume, junges Gras, Wildblumen, die sich aus Schlamm und Schneeresten hervorschoben. Aber hier war nichts. Der Boden des Beckens war vollkommen glatt und flach, völlig öde, grau und leblos. Hohe Berggipfel umschlossen das Becken. Die zerklüfteten Wipfel schienen nach innen zu ragen und vermittelten dem Beobachter den Eindruck, in das bröckelnde Gestein unter seinen Füßen gedrückt zu werden. Der Himmel über ihnen war azurblau, klar und kalt, ohne Sonne, Vogel oder Wolke, obwohl es geregnet hatte, als sie in den Tunnel gekrochen waren. Er war wie ein Auge, das aus grauen, glanzlosen Lidern nach unten starrte.
Schaudernd wandte Tanis schnell seinen Blick vom Himmel ab und betrachtete noch einmal das Becken.
Mitten im Becken bildeten riesige, formlose Findlinge einen Kreis. Es war ein vollkommener Kreis, bestehend aus unvollkommenen Steinen. Dennoch paßten sie so gut zusammen und standen so dicht nebeneinander, daß Tanis von seinem Standort aus nicht erkennen konnte, was diese seltsamen Steine so feierlich bewachten.
»Es macht mich furchtbar traurig«, flüsterte Tika. »Ich habe keine Angst – es scheint keine Gefahr davon auszugehen, aber es ist so traurig! Wenn die Götter wirklich hierher kommen, dann bestimmt nur, um über das Elend in der Welt zu weinen.«
Fizban musterte Tika mit einem durchdringenden Blick und schien etwas sagen zu wollen, aber da schrie Tolpan: »Hier, Tanis!«
»Ich sehe!« Der Halb-Elf rannte los.
Auf der anderen Seite des Beckens konnte er den schwachen Umriß von zwei Gestalten erkennen – eine kleine und eine große -, die kämpften.
»Es ist Berem!« kreischte Tolpan. Die beiden waren für seine scharfen Kenderaugen deutlich sichtbar. »Er macht was mit Flint! Beeil dich, Tanis!«
Sich bitter verfluchend, daß er es dazu hatte kommen lassen,daß er nicht besser auf Berem aufgepaßt hatte, daß er den Mann nicht gezwungen hatte, die Geheimnisse, die er offensichtlich zurückhielt, preiszugeben, rannte Tanis über den Felsboden mit einer aus Angst geborenen Schnelligkeit. Er konnte die anderen rufen hören, aber schenkte dem keine Beachtung. Seine Augen waren nur auf die zwei Gestalten gerichtet, und jetzt konnte er sie klar erkennen. Der Zwerg fiel auf den Boden. Berem stand über ihm.
»Flint!« schrie Tanis.
Sein Herz schlug heftig, er konnte nicht mehr richtig sehen.
Seine Lungen schmerzten, zum Atmen schien nicht genügend Luft vorhanden zu sein. Trotzdem lief er immer schneller. Jetzt drehte sich Berem zu ihm um. Er schien ihm etwas sagen zu wollen – Tanis konnte die Lippen des Mannes sich bewegen sehen -, aber der Halb-Elf konnte nichts hören. Zu Berems Füßen lag Flint. Die Augen des Zwerges waren geschlossen, sein Kopf war zur Seite gekippt, sein Gesicht aschgrau.
»Was hast du getan?« kreischte Tanis Berem an. »Du hast ihn getötet!« Trauer, Schuldgefühl, Verzweiflung und Wut explodierten in Tanis wie eine Feuerkugel des alten Magiers, überfluteten seinen Kopf mit unerträglichem Schmerz. Er konnte nicht sehen, ein roter Schleier zog sich über seine Augen.
Sein Schwert lag in seiner Hand, er wußte nicht wie. Er spürte den kalten Stahl des Griffs. Berems Gesicht schwamm in einem blutroten Meer; die Augen des Mannes füllten sich, nicht mit Angst, sondern mit tiefer Trauer. Dann sah Tanis, wie sich die Augen vor Schmerz weiteten, und erst dann wurde ihm bewußt, daß er sein Schwert in Berems wehrlosen Körper getrieben hatte, so tief, daß es durch Fleisch und Knochen ging, bis es gegen die Wand stieß, an die sich Berem gelehnt hatte.
Warmes Blut spritzte über Tanis' Hände. Ein entsetzlicher Schrei barst in seinem Kopf, dann fiel ein schweres Gewicht über ihn und warf ihn fast zu Boden.
Berems Körper rutschte über ihn, aber Tanis bemerkte es nicht. Hektisch zog er seine Waffe aus dem Körper und stach wieder zu. Starke Hände griffen nach ihm. Aber in seinem Wahn wehrte der Halb-Elf sie ab. Schließlich zog er sein Schwert aus dem Körper und sah Berem zu Boden fallen, Blut strömte aus der furchtbaren Wunde direkt unter dem grünen Edelstein, der in der Brust des Mannes wie ein eigenständiges, unseliges Leben glitzerte.
Hinter sich hörte er eine tiefe, dröhnende Stimme und die schluchzenden Bitten einer Frau und ein schrilles Jammern der Trauer. Tanis wirbelte herum, um jenen gegenüberzustehen, die versucht hatten, ihn zu behindern. Er sah einen großen Mann mit einem kummervollen Gesicht, ein rothaariges Mädchen, über deren Wangen Tränen flossen. Er erkannte beide nicht wieder. Und dann tauchte vor ihm ein alter, alter Mann auf. Sein Gesicht war ruhig und gelassen, seine alterslosen Augen mit Leid erfüllt. Der alte Mann lächelte Tanis sanft an und legte eine Hand auf die Schulter des Halb-Elfen.
Seine Berührung war wie kühles, beruhigendes Wasser. Tanis spürte seine Vernunft zurückkehren. Der blutige Schleier vor seinen Augen klarte auf. Er ließ das blutverschmierte Schwert aus seinen blutigen Händen fallen und brach schluchzend vor Fizbans Füßen zusammen. Der alte Mann bückte sich und klopfte ihm leicht auf die Schulter.
»Sei stark, Tanis«, sagte er leise, »denn du mußt dich von jemandem verabschieden, der eine lange Reise vor sich hat.«
Tanis erinnerte sich. »Flint!« keuchte er.
Fizban nickte traurig und sah auf Berems Leiche. »Komm mit. Hier kannst du nichts mehr ausrichten.«
Tanis schluckte seine Tränen hinunter und taumelte auf die Füße. Er schob den Magier beiseite und stolperte zu Flint, der auf dem Felsboden lag, sein Kopf ruhte in Tolpans Schoß.
Der Zwerg lächelte, als er den Halb-Elfen kommen sah. Tanis fiel neben seinem ältesten Freund auf die Knie. Er nahm Flints schwielige Hand in seine und hielt sie fest.
»Ich hatte ihn fast verloren«, sagte Flint. Mit seiner anderen Hand klopfte er auf seine Brust. »Berem wollte gerade durch das andere Loch in den Felsen schlüpfen, als mein altes Herz schließlich platzte. Er... er hörte mich aufschreien, vermute ich, denn ich weiß nur noch, daß er mich in seinen Annen hielt und mich auf den Boden legte.«
»Dann hat er... hat er dich nicht verletzt...«, Tanis konnte kaum sprechen.
Flint schaffte es, verächtlich zu schnaufen. »Mich verletzen! Er kann nicht einmal einer Maus weh tun, Tanis. Er ist so sanft wie Tika.« Der Zwerg lächelte dem Mädchen zu, das sich auch zu ihm gekniet hatte. »Du paßt auf diesen großen Hornochsen auf, hörst du?« sagte er zu ihr. »Sieh zu, daß er aus dem Regen kommt.«
»Das werde ich, Flint.« Tika weinte.
»Zumindest wirst du nicht mehr versuchen, mich zu ertränken«, grummelte der Zwerg, seine Augen ruhten liebevoll auf Caramon. »Und wenn du deinen Bruder sehen solltest, dann gib ihm einen Tritt von mir.«
Caramon konnte nicht sprechen. Er schüttelte nur den Kopf, »Ich... ich sehe nach Berem«, murmelte der Krieger. Er nahm Tika, half ihr sanft beim Aufstehen und führte sie weg.
»Nein, Flint! Du kannst ohne mich nicht auf Abenteuer gehen!« jammerte Tolpan. »Du wirst nur in endlose Schwierigkeiten geraten, das weißt du genau!«
»Es wird der erste friedliche Moment sein, seit wir uns kennen«, erwiderte der Zwerg mürrisch. »Ich will, daß du meinen Helm behältst – den mit der Mähne eines Greifs.« Er warf Tanis einen strengen Blick zu, dann wandte er sich wieder zu dem schluchzenden Kender. Seufzend tätschelte er Tolpans Hand.
»Nun, nun, Bursche, hab dich nicht so. Ich habe ein glückliches Leben geführt, war mit treuen Freunden gesegnet. Ich habe böse Dinge gesehen, aber auch viele gute. Und jetzt ist wieder Hoffnung in die Welt gekommen. Ich verlasse dich sehr ungern«, seine immer schwächer werdenden Augen ruhten auf Tanis, »gerade wenn du mich brauchst. Aber ich habe dir alles beigebracht, was ich weiß, Bursche. Alles wird gut werden. Ich weiß... gut...«