Talawain zögerte. Wie sollte er erklären, dass er in Frauenkleidern das Lager verlassen hatte? Und was würde geschehen, wenn er dem Unsterblichen verriet, wer er wirklich war? Ein Spitzel, der sich in sein Vertrauen geschlichen hatte, um ihn jahrelang zu verraten. Würde Aaron, wenn er das wusste, noch glauben, dass es ihm wirklich darum gegangen war, das Reich Aram zu schützen und das Leben für die Menschen besser zu machen? Wohl kaum.In diesem Moment erkannte Talawain, wie unentrinnbar er in das Gespinst aus Intrige und Verrat verstrickt war und wie perfide Ištas Tat war.
»Ich habe mich davongeschlichen, um unerkannt nach Nangog zu gelangen. Wie Ihr wisst, dienen mir dort viele Spitzel. Ich wollte in Erfahrung bringen, ob jemand etwas über Shaya weiß. Es gibt ein verborgenes Kloster, in das die Bräute nach der Heiligen Hochzeit gebracht werden … Aber niemand konnte mir sagen, wo genau es liegt.«
»Ich kann sie nicht mehr retten.« Die Stimme des Unsterblichen zitterte, als er sprach, und sein Antlitz war ein Spiegel seiner Seelenqual. »Wenn ich es versuche, stelle ich mich gegen die Gesetze der Götter. Dann werde ich alles verlieren, was ich gestern gewonnen habe, und der Tod all der Tausende, die jetzt im Staub liegen, wird vergebens gewesen sein. Kann ich so selbstsüchtig sein?« Er presste die Lippen zusammen, sodass sie nur noch ein blasser Strich in seinem bärtigen Gesicht waren. In seinen Augen schimmerten ungeweinte Tränen. »Man wird mich in den Gelben Turm rufen. Ich darf dort vor dem Löwenhäuptigen und all seinen Brüdern und Schwestern sprechen. Nie zuvor wurde einem Menschen eine solche Gunst zuteil. Vielleicht kann ich die Welt verändern. Es gäbe so vieles, was man besser machen könnte … Aber der Preis ist, dass ich meine Liebe verrate. Versuche ich, Shaya vor ihrem Schicksal zu bewahren, verliere ich alles. Unternehme ich nichts, verliere ich, was mir in meinem Leben am meisten bedeutet.« Er stieß einen gequälten Seufzer aus. »Ich kann nur beten, dass sie von Muwatta ein Kind empfangen hat. Ist das nicht der Fall, dann wird man ihr die Kehle durchschneiden, damit ihr Blut dem dürren Boden Luwiens Fruchtbarkeit schenkt.«
Sie sahen einander lange an. Der Unsterbliche wartete auf seinen Rat. Doch Talawain wusste nicht, was er ihm sagen sollte. Was für ein Mann würde Aaron werden, wenn er das Glück des Reiches mit dem Leben Shayas erkaufte? Wäre er noch ein guter Herrscher? Oder würde er langsam zu einem verbitterten Tyrannen werden, der in seinem Volk einen Feind sah, der ihm entrissen hatte, was ihm im Leben am wichtigsten gewesen war.
»Ich glaube dir, Datames«, unterbrach Aaron seine Überlegungen. »Aber suche nicht weiter nach Shaya. Je weniger ich weiß, desto besser ist es.« Stöhnend erhob sich der Herrscher. Er tastete flüchtig nach seiner Schulter, an der er am Vortag verwundet worden war.
»In meinem Herzen habe ich immer gewusst, dass du niemals eine wehrlose Frau töten würdest, Datames. Ich bin froh, die Wahrheit erfahren zu haben.« Seine Stimme stockte.
Talawain musste an Aya denken, die Haremsdame, die er zur Löwengrube geführt hatte. Aaron irrte sich. Unschuldiges Blut klebte an seinen Händen. Er würde diesen Makel niemals abwaschen können. Beklommen sah er zu seinem Bett. Hätte er sich nicht mit Kazumi eingelassen, würde auch sie noch leben. Er hätte wissen müssen, dass er sie in Gefahr brachte.
»Und doch können wir deine Geschichte nicht erzählen. Sie würde dem Glauben an die Götter Schaden zufügen. Du wirst für alle der Mörder Kazumis sein. Und ich werde über dich richten müssen. Du hast dem Reich so vieles gegeben. Darum werde ich dir dein Leben lassen. Ich werde dich verbannen, Datames. Du wirst vogelfrei sein. Wer dich nach Ablauf von drei Tagen aufgreift, mag dich richten.«
Talawain hatte das Gefühl, ihm würde der Boden unter den Füßen weggezogen. »Das ist …«
»Das ist nicht gerecht«, fiel ihm der Unsterbliche ins Wort. »Ich weiß. Aber es ist besser, du bist Kazumis Mörder, als dass die Menschen erfahren, dass Išta es war … dass die Götter uns kleinlichen Intrigen opfern. Du hast Aram viel gegeben, Datames. Dies ist das letzte Opfer, das ich von dir verlange.« Mit diesen Worten schlug Aaron die Plane am Eingang zurück und verließ das Zelt.
Vor dem weissen Tor
Der Sack wurde ihm vom Kopf gezogen, und gleißendes Sonnenlicht blendete Volodi. Er stand vor dem großen, weißen Torbogen, der zur Palaststadt der Zapote führte. Er erinnerte sich, wie er sich mit einem Teil der Zinnernen auf diesem Platz zum Kampf gestellt hatte und die Jaguarmänner aus den Schatten gekrochen waren. Sie waren ihnen nur entkommen, weil sie mit Seilen auf eines der Wolkenschiffe gezogen worden waren. Der Unsterbliche hatte seine Leibwache um sich versammelt, um gemeinsam mit der Ischkuzaia-Prinzessin Shaya und ihrer Leibwache gegen den Piraten Tarkon zu ziehen. Volodi hatte gewusst, dass die Wolkensammler über diesen Platz segeln würden. Wenn der Wind nicht drehte … Es war ein gefährliches Spiel gewesen.
Volodi sah sich verstohlen um. Neben ihm kauerten etwa dreißig weitere Männer auf dem weiten Platz. Den letzten von ihnen wurden gerade die Fesseln und die Säcke, die man ihnen über die Köpfe gestülpt hatte, abgenommen. Sie alle hatten goldblondes Haar so wie er.
Ein unangenehm pelziges Gefühl hatte sich auf seiner Zunge eingenistet. Etwas war mit diesem Sack gewesen, den man auch ihm über den Kopf gestülpt hatte. Er hatte den süßlichen Geruch noch in der Nase. Womit sie den Stoff wohl behandelt hatten?
Er setzte sich zu den Männern auf den Boden und sah sich weiter verloren um. Er wäre froh, wenn ihm jetzt jemand sagen würde, was er tun sollte. Wieder blickte er zu dem Torbogen. Er war aus poliertem, weißem Stein erbaut und mindestens zehn Mann hoch. Als sei er dazu erschaffen worden, Riesen Eintritt zu gewähren. Es gab hier keine Flügeltüren. Der Torbogen konnte nicht verschlossen werden. Die weitläufigen Gärten des Statthalterpalastes hießen einen jeden willkommen, der sie betreten wollte. Und doch war der weite Platz leer. Kein Besucher zeigte sich auf dem Weg in den Blumengarten. Volodi hatte etliche Geschichten über die Tempel dort gehört, über Altäre, auf denen blonden Männern bei lebendigem Leib die Herzen herausgerissen wurden.
Einer aus ihrer Gruppe stand auf und ging auf das Tor zu. Zögerlich nur. Als er es erreichte, trat eine junge Frau aus dem Schatten, legte ihm einen Kranz von Blumen um den Hals und reichte ihm einen Becher mit einem Willkommenstrunk.
Volodi leckte sich über die Lippen. Auch er war durstig. Ob er zu dem Tor gehen sollte? Er musste es ja nicht durchschreiten. Die Männer um ihn herum tuschelten leise, während die Jaguarkrieger, die sie vom Schlachtfeld hierhergebracht hatten, sie stumm beobachteten. Mindestens zwei der anderen Gefangenen kamen wie er aus Drusna.
»Lasst euch nicht von den Zapote verlocken«, raunte er ihnen zu. »Ihr müsst dieses Tor freiwillig durchqueren. Sie können euch nicht zwingen, so schreibt es ihr Ritual vor.«
Ein junger Krieger mit der Statur eines Ringers wandte sich zu ihm um. Er hatte aufgeplatzte Lippen und ein halb zugeschwollenes Auge. Ganz offensichtlich war er nicht freiwillig mit den Zapote gegangen. »Du kennst diesen Ort? Wo sind wir?«
»In der Goldenen Stadt auf Nangog. Hinter dieser Mauer liegen der Palast des Statthalters von Zapote und etliche Tempel dieser Wilden, die aus dampfenden Dschungeln gekrochen sind.«
»Wenn ich über Drusna recht informiert bin, dann ist auch deine Heimat ein Land der weiten Wälder, in denen ein großer Teil des Volkes lebt.« Eine Gestalt zum Fürchten war hinter sie getreten. Sie sprach mit hartem Akzent, sodass ihre Worte schwer zu verstehen waren. Es war einer der aufrecht gehenden Jaguare in schwarzblauem Fell. Steinerne Krallen schimmerten dort, wo bei einem Menschen Hände hätten sein sollen. Hinter den gelben Fangzähnen eines weit aufgerissenen Kiefers war im Halbdunkel das Gesicht eines Mannes zu erkennen. Er lächelte spöttisch und ließ dabei spitz zugefeilte Eckzähne sehen.