Hier stimmte doch etwas nicht … Warum war es so still? Was war da draußen, das die Vögel so ängstigte, dass sie zu singen aufhörten? Zwall blickte über die Schulter. Flüchtig sah er einen Schemen zwischen den Bäumen. Er kniff die Augen zusammen. Das konnte nicht sein. Eine Gestalt mit einem umgeworfenen Löwenfell!?
Als er wieder zur Lichtung vor der Felswand sah, stand dort eine schlanke, dunkelhaarige Frau. Mächtige, schwarze Schwingen wuchsen aus ihren Schultern. Der Kobold hielt den Atem an. Eine Aura der Macht umgab die Fremde. Sie hielt ein Schwert mit schwarzer Klinge in der Rechten. Die löwenhäuptige Gestalt gesellte sich zu ihr. Und dann noch eine Kreatur, halb Mann, halb Eber.
Solche Geschöpfe hatte Zwall nie zuvor gesehen. Da war es sicher klüger, sich bedeckt zu halten. Er überlegte, ob er noch ein wenig tiefer ins Haseldickicht kriechen sollte. Aber wenn er dabei das geringste Geräusch verursachte … Nein, besser gar nicht bewegen.
Die Geflügelte deutete auf das Tor im Fels. Wollten die etwa hinab in die Blaue Halle? Waren es am Ende doch Elfen? Einige seiner Herren vermochten die Gestalt zu verändern, das wusste Zwall. Er öffnete sein Verborgenes Auge und starrte die Fremden an. Ihre Auren waren vom hellen Rot kaum beherrschter Wut gefärbt. So dicht war das Geflecht aus Kraftlinien, das sie umgab, dass es fast zu einem formlosen Leuchten zerfloss.
Der Ebermann nahm die Geflügelte bei der Hand, und das Leuchten, das von ihnen ausging, wurde noch intensiver. Es erschien Zwall schon fast so intensiv wie das Licht der Sonne an einem Hochsommertag.
Weitere Lichtgestalten erschienen vor der Felswand. Es waren jetzt zwölf. Zwall war neugierig, ob auch die anderen Tierköpfe hatten. An ihren Auren konnte er es nicht ablesen. Er wollte die Augen öffnen, doch es gelang ihm nicht. Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Es war nicht das erste Mal, dass er sein Verborgenes Auge nicht mehr schließen konnte. Manchmal war es, als beherrschte die Magie ihn und nicht er sie. Als würde sie ihn einfach forttragen, wenn er ihr ein Tor öffnete.
Der Löwenhäuptige nahm nun ebenfalls das Weib mit den Flügeln bei der Hand. Das Leuchten wurde intensiver. Es schmerzte hinzusehen. Das war ihm noch nie passiert.
Zwall wollte den Kopf senken, doch was vor der Felsenwand geschah, hatte ihn ganz und gar in Bann geschlagen. Eine weitere Lichtgestalt schloss sich der Gruppe an und ergriff eine Hand des Löwenhäuptigen. Blendendes Weiß löschte nun alle Farben. Zwall vermochte keine Kraftlinien mehr zu unterscheiden. Alles war nur noch Licht und Schmerz. Seine Stirn glühte, als sich das Licht tief in seinen Kopf fraß.
Er schrie auf, ohne noch darüber nachzudenken, dass er sich damit in Gefahr brachte. Was hatte er getan. Nie, nie wieder würde er sein Verborgenes Auge öffnen!
Eine gleißende Woge trug ihn fort. Seine Beine knickten weg. Nein, es war der Boden. Etwas geschah. Was taten die Fremden? Sie leiteten das Licht durch das geheime Tor im Fels. Alles schwankte. Tief aus der Erde erklang ein Rumoren und Ächzen, wie Zwall es noch nie zuvor vernommen hatte.
Das Licht war in ihm.
So heiß …
In Ketten
Unruhig wand sich Nachtatem auf dem flachen Fels, der sich inmitten des weiten, überfluteten Gewölbes tief unter der Pyramide im Herzen des Jadegartens erhob. Die Himmelsschlange versuchte sich auf das Flüstern der Orakelstimmen zu konzentrieren, die Dutzenden von Stimmen der Gazala, die rings um ihn herum im flachen Wasser standen und ihm in Trance versunken von den endlos vielen möglichen Zukünften Albenmarks kündeten. Diese Kreaturen, halb Elfe, halb Gazelle, mit schlanken Tierläufen, Frauenkörpern und in sich gedrehten, weit über ihren Rücken hinabgeschwungenen Hörnern, sollten ihm helfen, den rechten Weg zu finden. Und doch schafften sie es an diesem Tag nicht, ihm das Gefühl der Verlorenheit zu nehmen.
Er war der Erste unter seinen Nestbrüdern. Der Erstgeschlüpfte und früher ein Liebling der Alben. Doch die Weltenschöpfer hatten sich zurückgezogen und ihre Schöpfung ihren Kindern überlassen. Lange war es her, dass er das letzte Mal mit einem von ihnen seine Gedanken tauschen durfte. Nun ruhte alle Last dieser Welt auf seinen Schultern.
Er wollte ein guter und gerechter Herrscher sein. Einer, der die anderen Kinder der Alben schützte, und den die Devanthar, die Daimonen, die über die Welt der Menschen herrschten, fürchteten. Sie kannten kein Maß in ihren Begehrlichkeiten. Sie griffen nach Nangog, der verbotenen Welt, und eines Tages würden sie auch nach Albenmark greifen, davon hatten die Gazala ihm erzählt. Er allein stand zwischen diesen Kreaturen und allem, was ihm etwas bedeutete. Er und seine Brüder waren der geschuppte Schild Albenmarks. Sie mussten stark und furchterregend sein. Das allein hielt die Devanthar zurück. Und ihm oblag es, den einen Weg zu finden, der ihn für seine Feinde zur Schreckensgestalt machte, für jene aber, die er schützen wollte, nicht zum Tyrannen werden ließ.
Einen Augenblick lauschte er auf Firaz. Er mochte diese rebellische Gazala. Ihre Gabe war besonders ausgeprägt. Oft war er geneigt, die Bilder der Zukunft, die sie sah, für besonders wahrscheinlich zu halten. Natürlich würde sich das ändern, je mehr er auf sie hörte, denn jede seiner Taten veränderte die Zukunft. Mochte er eine Katastrophe abwenden, so konnte das, was kurzfristig als ein Glück erschien, nur wenige Jahrhunderte später noch eine viel größere Katastrophe heraufbeschwören. Und alltäglich lauschte er den Worten des Schreckens. Geschichten über ein Banner, das einen schwarzen, abgestorbenen Baum zeigte und das über einem Albenmark wehte, das all seinen Zauber verloren hatte. Geschichten über blutige Kämpfe mit seinen Nestbrüdern, über Verrat und Intrigen, das Sterben der Götter und darüber, wie seine ganze Welt zerbrach, weil er sich von seinem Zorn hatte leiten lassen.
Doch heute sprach Firaz von einer Königin, und ihre Vision war so stark, dass sie Bilder vor seinem geistigen Auge entstehen ließ. Nachtatem sah eine kleine, zierliche Elfe, deren gelocktes Haar auf schneeweiße Schultern fiel. Sie bewegte sich inmitten einer prächtigen Hofgesellschaft. Die meisten Elfen, die sie umringten, waren größer und auch prächtiger gekleidet, doch diese kleine, zierliche Gestalt strahlte eine Macht aus, die Tand und Körperliches verblassen ließ. Sie war die Herrin dieses Hofes und noch viel mehr: Sie herrschte über Albenmark!
Nachtatem wünschte, er würde ihren Namen kennen. Wer war sie, deren Lippen so rot wie Waldbeeren waren und in deren rehfarbenen Augen man zu versinken drohte? Er wünschte, die Vision wäre so intensiv, dass die Bilder von Lauten und Gerüchen begleitet würden, als sei er mitten unter jenen, die er nur in seinem Geiste sah. Unter Elfen, die womöglich erst in Jahrhunderten geboren werden würden. Fasziniert blickte er in die Augen der Herrscherin. Und erkannte tief auf ihrem Grund denselben Schmerz, den er so oft fühlte und den nur der zu empfinden vermochte, dem die Last einer Welt aufgebürdet war. So fremd sie einander waren, ihre Seelen waren verwandt, dessen war er sich ganz sicher. So nah …
Das Bild verblasste, und es drängten sich die Gedanken an Nandalee in sein Bewusstsein. Gedanken, gegen die er schon den ganzen Tag ankämpfte. Er wusste, dass sie den geschützten Felsgarten verlassen hatte und im Bainne Tyr auf Pirsch ging. Sie genoss es, durch die weite Savanne zu streifen, die riesigen Herden bei der Wanderschaft zu beobachten und das freie, ungebundene Leben einer Jägerin zu führen.
Nachtatem sehnte sich nach dem Geschmack frischen, warmen Blutes. Auch er war ein Jäger, doch die Last, der Erstgeschlüpfte zu sein, hatte dieses Vergnügen ein seltenes Gut werden lassen. Seine Nestbrüder frönten weit öfter ihren Begierden.