Barnaba sprang von der Mauer. Rings um den Platz, dort, wo Prachtalleen und schmale Gassen in die Stadt führten, die sich auf zahllosen Terrassen entlang der Steilhänge des Weltenmundes erstreckte, entstand ein mörderisches Gedränge. Fast alle versuchten fortzukommen. Nur wenige strebten zur Mitte des Platzes. Barnaba war überzeugt, dort am sichersten zu sein.
Ein Gildenhaus schüttelte sein Dach ab, und ein Hagelsturm von Schindeln ging auf jene nieder, die sich zum Eingang der Sonnenallee geflüchtet hatten, die hinab zum großen Kornhafen führte. Risse taten sich in den Steinplatten des weiten Platzes auf. Barnaba sah eine Haremsdame, die unter einer gestürzten Sänfte eingeklemmt war. Er versuchte, ihr zu Hilfe zu eilen, wurde aber von einer Horde flüchtender Lastenträger abgedrängt.
»Die Götter haben uns verlassen«, erklang ein gellender Schrei hinter ihm. »Seht! Seht die Götterbilder!«
Am Goldenen Tor klaffte ein breiter Riss in der Brust des Löwenhäuptigen, und ein Flügel Ištas war abgebrochen und zu Boden gestürzt. Noch während der Priester die Monumentalbilder anstarrte, weitete sich das Netzwerk von Rissen, das durch die Felswand und die daraus geschlagenen Götterbilder lief, weiter aus, und plötzlich kippte der Kopf des Löwenhäuptigen zur Seite. Mit einem Getöse wie ein Donnerschlag krachte er auf den Platz, rollte noch ein Stück und blieb dann mit dem Gesicht im Staub liegen.
Wer nicht zu den Straßenmündungen geflohen war, warf sich zu Boden und von überallher hob ein Jammern und Flehen an, wie Barnaba es noch in keinem Tempel gehört hatte. Er selbst war zu lange Priester gewesen, um noch an Omen zu glauben. Aber ihm war klar, was das einfache Volk in einem enthaupteten Gott und einer Išta, die die Hälfte ihrer Flügel verloren hatte, sehen würde.
Während fast alle knieten, eilte er zu der gestürzten Sänfte. Der Anblick der jungen Frau, die unter dem schweren Holzrahmen der Sänfte eingekeilt war, rührte ihn. Sie hatte makellos weiße Haut, die nun von Tritten entstellt war. Ihre grünen Augen starrten blicklos in den grauen Himmel. Die Flüchtenden hatten sie zu Tode getrampelt.
Barnaba kniete neben ihr nieder und schloss ihre Lider. Dann raubte er ihre Halsketten und ihre schweren goldenen Armreifen. Die Götter hatten auch ihm ein Zeichen gesandt, dachte er mit zynischem Lächeln. Er würde in den nächsten Wochen nicht hungern müssen, selbst wenn er bei einem Hehler nur einen Bruchteil dessen bekäme, was der Schmuck tatsächlich wert war.
Noch wichtiger als die Gelegenheit zum Diebstahl war etwas ganz anderes. Er wusste, was in der Nacht passieren würde. Ein solches Zeichen der Götter war zu willkommen, um nicht vereinnahmt zu werden. Er würde sich auf die Lauer legen, und auch seine zweite Sorge würde sich von ganz allein erledigen. Er blickte zu dem enthaupteten Löwenhäuptigen auf. Er hatte seinen Glauben verlieren müssen, um zum ersten Mal Hilfe durch die Götter zu erhalten.
Die Zeit des Blutes
Nachtatem war der Erste, der durch den Albenstern nahe der Blauen Halle trat. Voller Erwartung sah er sich um. Der Weg hinauf zum Eingang des Elfenrefugiums war von entwurzelten Bäumen gesäumt. Einzelne, große Felsbrocken lagen zwischen dem zersplitterten Holz. Hinter den geschwungenen Dornenranken eines Waldbeerdickichts stand ein Reh und blickte ihn mit schreckensweiten Augen an.
Es roch nach Holz, zerfetztem Grün und frisch aufgeworfener Erde. Was um alles in der Welt hatten die Alben hier getan?
Hinter Nachtatem trat sein flammend roter Bruder durch den Stern. Er spürte den Schrecken und den Schock des Roten, und als hätte es dieses letzten Anstoßes bedurft, wurde ihm bewusst, dass dies hier niemals das Werk der Alben sein konnte.
Der Drache weitete seine Schwingen und glitt wie ein Schatten über den Himmel hinauf, dorthin, wo sich einmal der verborgene Eingang zur Blauen Halle befunden hatte. Der ganze Hang war abgerutscht. Nichts sah mehr vertraut aus. Es war unmöglich zu erkennen, wo einmal der Einstieg gewesen war. Überall, rings im Wald und auch auf den weiter entfernten Wiesen, sah er seltsame Kuhlen, als sei der Boden in die Tiefe gerutscht.
Der Rote landete neben ihm auf der Lichtung vor dem verborgenen Tor. Er wirkte fremd, sein sonst so aufbrausendes Temperament war verloschen. Spürst du es auch, Bruder? Diesen Schmerz, tief in deinem Inneren. Es ist wie damals.
Der Dunkle betrachtete das verwüstete Land durch sein Verborgenes Auge. Auch die Kraftlinien waren gestört. Nie seit den Tagen der Weltenschöpfung, hatte er etwas Vergleichbares gesehen. Die Linien leuchteten so hell, dass selbst der Blick durch das Geistauge schmerzte, als bohre sich langsam ein glühender Dolch in seinen Kopf.
Der hinter einem Blendzauber verborgene Eingang zur Blauen Halle war gänzlich verschwunden.
Kein Fels versperrte dem Dunklen die Sicht, wenn er auf diese Weise die Welt betrachtete. Er neigte das Haupt und sah hinab in die Tiefe, dorthin, wo die Hallen hätten sein sollen und die Auren der Albenkinder, die dort wohlverborgen und geschützt tief im Inneren des gewachsenen Felsens ihren Arbeiten nachgingen. Doch da war nichts. Nicht einmal eine Maus. Nur der Abglanz einer Macht, die entlang der Kraftlienen hinab ins Gestein gelenkt worden war. Und da begriff der Erstgeschlüpfte, was geschehen sein musste …
Der Rote fauchte auf. Ihrer beider Gedanken waren miteinander verbunden gewesen. Sein Nestbruder weigerte sich zu akzeptieren, was die einzige Erklärung für das war, was sie hier sahen. Die Blaue Halle gab es nicht mehr! Ein Himmel aus Gestein war über den ausgedehnten unterirdischen Sälen zusammengebrochen und hatte alle dort unten für immer unter sich begraben. Alle.
Auch seinen Bruder, den sie den Himmlischen genannt hatten. Die Devanthar hatten ein zweites Mal eine Regenbogenschlange ermordet!
Der Himmel über ihnen füllte sich mit Schwingen. Jetzt waren all seine Brüder hier, und der Schmerz, der sie miteinander verband, überwältigte Nachtatem. Aber es war nicht allein Schmerz. Alle außer dem Roten waren bis auf den Grund ihrer Seele erschrocken. Der Tod spielte in ihrem Denken bisher keine Rolle. Sterben war etwas für andere. Sie existierten seit den ersten Tagen der Schöpfung. Sie hatten die Welt entstehen sehen. Sie alterten nicht. Und außer den Alben, die es aufgegeben hatten, das Schicksal Albenmarks formen zu wollen, gab es kein Geschöpf auf dieser Welt, das ihnen gefährlich werden konnte.
Und dennoch war der Himmlische inmitten dieses Friedens von einem Augenblick zum anderen gestorben. Ohne Vorwarnung hatte der Tod nach ihm gegriffen. Und mit ihm war auch etwas in ihnen allen gestorben: die Gewissheit, unberührbar zu sein.
Nachtatem spürte neben dem Schreck auch den Zorn seiner Brüder. Manche empfanden Mitleid mit dem Himmlischen. Andere waren noch nicht so weit. Sie rangen noch darum zu begreifen, dass ihr Bruder, der sie ungezählte Jahrhunderte begleitet hatte, nun nicht mehr unter ihnen weilte. So zahlreich waren die Facetten der Gefühle, dass Nachtatem zuletzt einen Zauber wirkte, um nicht länger mit den anderen verbunden zu sein.
Der Goldene sah ihn misstrauisch an. Hast du Geheimnisse vor uns, mein Bruder?
Nun blickten all seine Nestbrüder zu ihm.
Wir dürfen uns nicht unseren Gefühlen hingeben. Wir müssen begreifen, was hier geschah und warum, antwortete er.
Was ist hier nicht zu begreifen? Die Gedanken des Flammenden waren wie ein Feuersturm. Er dachte nicht daran, seinen Zorn zu unterdrücken. Folgen wir ihnen, Brüder! Sie haben eine Fährte im Goldenen Netz hinterlassen. Noch wird es leicht sein, sie zu stellen. Die Zeit zu reden ist vorüber. Nun ist die Zeit des Blutes gekommen.