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Zuletzt hielt er die Pergamentstreifen ganz nah an die Flamme einer Öllampe, um nach einer Geheimschrift zu suchen, die vielleicht bei Hitze oder einem veränderten Licht sichtbar wurde. Auch das half nicht weiter. Durch sein Verborgenes Auge betrachtet war ebenfalls nichts Auffälliges zu entdecken. Es war zum Verzweifeln.

Im ersten Tageslicht ließ Talawain sich völlig erschöpft auf sein Lager sinken. Sieben Wochen hatte er auf diese Nacht hingearbeitet, und nun sah es so aus, als sei er einem Irrtum aufgesessen. Er lauschte auf die Geräusche draußen auf der Straße. Die Holzläden vor den Auslagen wurden hochgeklappt, die Händler tauschten neuesten Tratsch aus. Ein früher Brotverkäufer pries seine Ware an.

Talawain sank in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von Išta, die über die Wellen eines aufgewühlten Meeres schritt und ihn verspottete. Sie war mit Schild und Speer bewaffnet. Herausfordernd schlug sie den Schaft des Speers vor den Schild, dass es laut krachte. Plötzlich schleuderte sie ihm die Waffen entgegen.

Mit einem Schrei fuhr Talawain auf. Er war in Schweiß gebadet. Sein Herz schlug wie rasend. Und immer noch war das Krachen zu hören. Benommen sah der Elf sich um. Die Tür … jemand hämmerte gegen die Tür. »Moment, ich komme.« Hastig raffte er die Pergamentstreifen des Bildes zusammen und versteckte sie unter seiner Nachtdecke. Noch benommen öffnete er die Tür, wo der Erste Schreiber auf ihn wartete.

»Mir scheint, du nutzt nicht die Nacht zum Schlafen, Šutarna. Išta gefällt es nicht, wenn man die von ihr gesetzte Ordnung der Dinge missachtet«, sagte er anstelle einer Begrüßung streng. »Dennoch hat die Göttin sich dir gnädig erwiesen. Das Priesterkollegium hat sich fast einhellig für dich ausgesprochen. Wir möchten eine deiner Arbeiten als eines der Geschenke für den Unsterblichen Ansur haben.«

Talawain verneigte sich. »Ich danke Euch untertänigst, Erster Schreiber. Ich weiß, dass ich diese Gunst Euch zu verdanken habe. Gerne würde ich mich dafür erkenntlich zeigen. Seit Langem schon möchte ich den Dienerinnen im Haus des Himmels ein Geschenk machen, da ich großen Respekt vor ihrem Dienst an der Göttin in tiefster Einsamkeit empfinde. Sagt, wisst Ihr, auf welchem Wege ich ihnen eines meiner Bilder zukommen lassen könnte?« Es war ein plumper, letzter Versuch, das Kloster zu finden, in dem Shaya gefangen gehalten wurde, das wusste Talawain, aber nach seinem Scheitern in der letzten Nacht war er in der Stimmung für Verzweiflungstaten.

Der Priester runzelte die Stirn. »Es ist ein Geheimnis, wo das Haus des Himmels liegt. Nur wenige Auserwählte kennen den Weg dorthin. Es heißt, man müsse zwischen den Welten wandern, um dorthin zu gelangen. Wenn du mir aber ein Bild für die Priesterinnen dort gibst, werde ich sicherlich eine Möglichkeit finden, es ihnen überbringen zu lassen.«

»Bis wann müsste ich mein Bild denn vollenden, damit die Barbarenprinzessin es noch vor ihrer Opferung sieht? Ich glaube, ein eindrucksvolles Bild der Göttin könnte ihr verdeutlichen, welche außerordentliche Ehre es ist, ihr Blut für Išta und unser Land zu vergießen.«

Der Erste Schreiber lachte auf. »Was für ein nobler Gedanke, Šutarna, doch fürchte ich, dass es zu den Eigenarten von Barbaren gehört, dass ihnen alles Noble fremd bleibt. Du magst dein Bild malen, und die Priesterinnen werden es gewiss zu schätzen wissen, aber das Herz der Barbarin wird es gewiss nicht berühren. Man erzählte mir unlängst, dass diese Prinzessin lange Wochen lieber unter Ziegen lebte als im Kloster. Sie wird zu Frühlingsbeginn hingerichtet werden, wobei man im Haus des Himmels, das hoch in den Bergen liegt, einen recht eigentümlichen Brauch pflegt zu entscheiden, wann der erste Frühlingstag ist. Im Klostergarten steht ein großer Kirschbaum. Wenn sich seine ersten Blüten öffnen, wird die Barbarenprinzessin sterben. Zu diesem Zeitpunkt sind überall sonst im Reich die Kirschblüten längst gefallen.«

»Aber sie wird doch geopfert, um dem Reich Fruchtbarkeit zu schenken. Und das geschieht, wenn die Obstblüte überall sonst schon vorüber ist und das Korn schon hoch steht?«, wandte Talawain verwundert ein.

Der Erste Schreiber strich sich nachdenklich über den Bart. »Ja, das ist schon etwas unglücklich«, gab er schließlich zu. »Aber unsere Sorge ist das nicht. Halte dich bereit, in den nächsten Tagen mit der Arbeit am Bild für den Tempel zu beginnen, und wenn dein Geschenk für das Haus des Himmels vollendet ist, werde ich mich darum kümmern, dass es die Priesterinnen erreicht.« Mit diesen Worten wandte sich der Erste Schreiber ab, und Talawain verschloss sorgsam die Tür seines Ladens. Heute wollte er keine Kunden mehr sehen.

Bei einem kargen Mahl aus altem Brot und Schafskäse brütete er weiter über dem Geheimnis von Rowayns Bild. Schließlich entschied er sich, das Haus seines toten Freundes bei Tageslicht zu besuchen. Er konnte es zwar nicht wagen, eines der Fenster zu öffnen, aber durch die Spalten in den Holzläden sollte genug Licht einfallen, um eine bessere Sicht als bei Nacht zu haben.

Erneut kroch er durch den Tunnel. Als er den Kopf aus dem Loch im Fußboden streckte, war er überrascht. Durch den Ruß an den Wänden wirkte das Zimmer genauso finster und abweisend wie zuvor in der Nacht. Nur drei schmale Lichtbahnen, in denen goldene Staubflöckchen tanzten, schnitten durch den Raum. Ein Lichtstreifen fiel genau in die Bettnische. Talawain, der sonst nicht viel auf Omen gab, nahm es als ein Zeichen. Noch einmal ging er zu der Wand. Der Lichtpunkt leuchtete mitten auf den roten Lehmputz. Er klopfte rings um das Licht die Wand ab, in der Hoffnung einen verborgenen Hohlraum zu finden. Aber da war nichts. Im Gegenteil, diese Wand schien sogar besonders solide zu sein.

Der Elf stutzte. Warum sollte eine Wand stärker als alle anderen sein? Er trat aus der Nische und klopfte auf das Wandstück daneben. Der Ton klang dumpfer, erdiger.

Talawain nahm eines der Messer vom Arbeitstisch und kniete sich auf Rowayns Bett. Vorsichtig begann er, mit der Klinge am Lehm zu kratzen. Bald schon brach ein Stück heraus, und darunter kam hellerer, festerer Putz zum Vorschein. Auf dem Stück, das er freigelegt hatte, war eine stilisierte Palme auf ockerfarbenem Untergrund zu sehen.

Aufgeregt schob Talawain das Messer unter die Bruchkante und hebelte mehr Lehm von der Wand. Eine gestrichelte Linie, die durch das Ocker führte, kam zum Vorschein. Er folgte der Linie, bis weitere Palmen und dann eine Gruppe Häuser erschienen, die von einer Mauer umgeben waren. Daneben war ein schwarzer Schriftzug auf dem Putz aufgetragen: Alalach.

Talawain kannte die Stadt dem Namen nach. Sie lag nicht weit von der Grenze zu Aram in einer fruchtbaren Ebene. Er hatte Rowayns Geheimnis entdeckt!

Sinnend betrachtete er die Wand und versuchte zu schätzen, wo unter dem roten Putz er Isatami finden würde, wenn die Karte maßstäblich gezeichnet war. Nur eine genaue Karte würde ihm bei seiner Suche wirklich helfen. Er setzte drei Ellen entfernt, links oberhalb von Alalach, die Klinge an und hatte bald eine Lücke in den Lehm gekratzt. Erst fand er nur Hügelland, in dem vereinzelt Zedern eingezeichnet waren, dann stieß er erneut auf eine gestrichelte Linie, die gewiss einen Karawanenweg darstellte. Er folgte ihr und legte eine Gruppe von roten Häusern frei, in deren Mitte sich eine Zikkurat erhob, die große Stufenpyramide, die Isatami beherrschte.

Stundenlang arbeitete Talawain weiter und legte immer größere Teile der Karte frei. Er hatte keine Ahnung, wo er nach dem Haus des Himmels suchen sollte. Unweit der Grenze zu Drusna war der Berg Luma eingezeichnet. Jener Berg, auf dem einst die Devanthar Anatu einen Palast aus Mondenlicht errichtet hatte. Talawain hatte diese Geschichte immer für eine der vielen Legenden um Išta gehalten, denn diese hatte Anatu im Kampf überwunden und im Gelben Turm eingekerkert. Aber wenn Rowayn den Berg auf seiner Karte an einem ganz konkreten Ort eingezeichnet hatte, dann musste er Beweise dafür entdeckt haben, dass es diesen Palast wirklich gab.