Die Ironie des Wächters gefiel Arcumenna nicht. Er merkte sich genau das Gesicht des Mannes, der eine kleine, rote Narbe unter seinem linken Auge hatte. Wenn sich die Gelegenheit bot, würde er ihn beseitigen lassen. Dieser Krieger war intelligent und aufsässig. Solche Männer sollte Iwar nicht um sich haben, das würde künftig nur Ärger bringen.
Der Krieger führte ihn über einen kleinen Flur, der vor einer roten Tür endete. Energisch klopfte er. Von drinnen erklang irgendein unartikulierter Laut, den der Krieger offenbar als Aufforderung zu öffnen verstand.
»Du bist willkommen«, sagte er mit spöttischem Lächeln und zog die Tür auf.
Arcumenna hatte kaum einen Fuß über die Schwelle gesetzt, als neben ihm klirrend ein Weinkrug an der Wand zerbarst. »Ich wollte nicht gestört werden«, grollte eine trunkene Bassstimme. »Raus mit euch!«
Auf einem hohen Lehnstuhl hockte ein schwarzbärtiger Kerl, massig wie ein Bär. Zwei dralle, blonde Frauen standen hinter ihm. Eine kraulte ihm das lockige Haar, während die zweite eher lustlos an einer Harfe zupfte.
Arcumenna kniete vor dem Unsterblichen Iwar nieder. »Mein Gebieter, der Unsterbliche Ansur schickt mich mit einer dringenden Botschaft, Erhabener. Ich bitte Euch, mich zu erhören.«
Iwar blinzelte, als habe er Mühe, ihn zu erkennen. Offensichtlich war der Unsterbliche wieder einmal sturzbetrunken. Arcumenna konnte sich nicht erinnern, den Herrscher Drusnas jemals nüchtern gesehen zu haben. Kein Wunder, dass sein Königreich vor die Hunde ging.
»Du kannst bleiben«, murrte Iwar.
»Ich bitte es zu entschuldigen, wenn ich Umstände mache, aber die Angelegenheiten, die wir zu besprechen haben, erfordern eine gewisse Diskretion.« Arcumenna liebte es, der Sprache der Barbaren ein Maximum an Förmlichkeit abzuringen. Damit löste er jedes Mal Verblüffung aus. Seine Grammatik und seine Aussprache waren vollkommen, und doch redete kein Drusnier wie er.
Iwar glotzte ihn einen Moment an, als müsse er die gehörten Worte neu sortieren, um ihnen einen Sinn abzuringen. »Geht«, fuhr er plötzlich die Weiber an, die sich beeilten, das Zimmer zu verlassen.
Eine Hand legte sich schwer auf Arcumennas Schulter. »Dein Schwert und deinen Dolch, Memma. Du wirst keine Klingen brauchen, wenn du mit meinem Herrscher sprichst. Deine giftige Zunge ist schon Waffe genug.«
Der Valesier erhob sich, löste seinen Waffengurt und drückte ihn dem Leibwächter in die Hand. Augenblicklich verließ der Krieger den Raum und schloss hinter sich die Tür.
»Dann pack mal aus, Memma.«
Es fiel Arcumenna schwer, seinen Zorn zu beherrschen. Dass selbst der Unsterbliche ihn mit dem Spottnamen ansprach, den man in ganz Drusna für ihn benutzte, war ein unverzeihlicher Affront. Aber Spott war das Letzte, was den Drusniern geblieben war, alles andere hatten sie ihnen abgenommen, dachte der Feldherr, und seine Laune besserte sich ein wenig.
»Der Unsterbliche Ansur ist bedrückt über die Verstimmung, die zwischen deinem Volk und seinen Männern herrscht.«
Iwar lachte auf. Es war lautes, freudloses Gelächter. »Verstimmung? Nenn die Dinge doch beim Namen: Dutzende eurer Krieger wurden niedergemetzelt. Meine Steuereintreiber wurden gehenkt, wenn sie sich mit weniger als hundert Reitern als Eskorte in die Wälder wagten. Außenposten sind niedergebrannt, und Hunderte Lasttierladungen von Abgaben, die wir eingezogen haben, wurden gestohlen. Verstimmung … das ist wirklich nicht das, was die Stimmung in meinem Königreich beschreibt.«
»Doch seit dieser Volodi verschwunden ist, ist es wieder etwas ruhiger geworden«, wandte Arcumenna ein, der sehr wohl um die Lage in Drusna wusste. Vor zwei Wochen war er aus der Goldenen Stadt abberufen worden. Seitdem hatte er unzählige Stunden damit verbracht, Berichte über den Aufstand in Drusna zu studieren und mit Männern zu sprechen, die Augenzeugen der Überfälle gewesen waren.
»Der Kerl wird wiederkommen.« Iwar erhob sich leicht schwankend aus seinem Lehnstuhl, ging zu dem kleinen Tisch neben dem zerwühlten Bett und schenkte sich einen Becher Wein ein. »Auch was? Ist guter Wein, kommt von den Aegilischen Inseln.«
Sosehr Arcumenna sonst den schweren Roten der Aegilen schätzte, nun lehnte er dankend ab. Es galt, bei dieser heiklen Mission einen klaren Kopf zu behalten. »Der Unsterbliche Ansur wünscht nicht zu warten, bis es dem Banditen beliebt wiederzukommen. Er wäre sehr erfreut, wenn Ihr alle Kräfte aufbieten würdet, um nach ihm suchen zu lassen, erhabener Iwar.«
»Jetzt, da der Winter begonnen hat?« Der Unsterbliche knallte den Weinkrug auf den Tisch. »Hast du eine Vorstellung, worum du mich da bittest?«
»Mit Verlaub, nicht ich bitte Euch, sondern der Unsterbliche Ansur.«
»Ein Mann, der sich im Winter in den Wäldern verkriecht, ist unauffindbar.« Iwar machte eine vage Geste zum verschlossenen Fenster. »Dieser Volodi hat da draußen mehr Freunde als ich. Niemand wird verraten, wo er sich verkrochen hat. Sollte ich mir einfallen lassen, ihm etwas anzutun, kostet mich das den Thron.«
»Aber, aber …« Arcumenna hob beschwichtigend die Hände. »Wer sagt denn, dass Ihr diesem Rebellen etwas antun sollt. Dem Unsterblichen Ansur ist die schwierige Lage, in der Ihr Euch befindet, vollauf bewusst. Ihr sollt Volodi nicht bestrafen. Ganz im Gegenteil. Lobt ihn in aller Öffentlichkeit für das, was er getan hat. Und dann ernennt ihn zum Hauptmann Eurer Leibwache. Fordert ihn auf, hierher an den Hof zu kommen, und schwört vor Euren Priestern, dass Ihr ihn mit Eurem Leben beschützen werdet, sollte ein Valesier versuchen, Volodis Blut zu vergießen.«
Iwar glotzte ihn an und traute ganz offensichtlich seinen Ohren nicht.
»Natürlich werden wir vor aller Welt gegen diese Ehrungen protestieren, aber vertraut mir, das wird nichts zu bedeuten haben. Es ist der ausdrückliche Wunsch des Unsterblichen Ansur, dass Ihr Volodi an Euren Hof holt und wie Euren besten Freund behandelt.«
»Und warum sollte ich das tun?«, fragte der Herrscher misstrauisch.
»Euer Volk wird Euch dafür lieben. Aber das ist zugegebenermaßen nur eine Nebensächlichkeit … Wirklich von Bedeutung ist, dass Euch der Hauptmann Eurer Leibwache zum Fest der Götter ins Weiße Selinunt begleiten wird. Dort werden er und seine Zapote-Priesterin für immer verschwinden. Der Unsterbliche Ansur hat mir bereits die Gruft gezeigt, die für die beiden vorgesehen ist. Ein Hohlraum im Fundament des Tempels der kleinen Götter. Niemand wird sie dort je wiederfinden. Gewiss wird Volodi in den Sagen deines Volkes unsterblich werden. Sie werden allen möglichen Unsinn zurechtspinnen, wie es immer geschieht, wenn jemand einfach verschwindet. Ist er erst einmal fort, wird die Rebellion sehr schnell in sich zusammenbrechen.«
»Muss ich ihn töten?« Ein weinerlicher Ton lag in der Stimme des Säufers.
»Sagen wir einmal so, es wird nicht sein Blut an deinen Händen haften.«
Von der Ehre
Talawain genoss den scharfen Ritt durch den herbstlichen Wald. Die Bäume hatten sich in strahlendes Gold gewandet. Der würzige Duft verrottenden Laubes lag in der Luft und erinnerte daran, dass all die Pracht des lichten Waldes nur ein Vorspiel zum Todesschlaf des Winters war. Eine plötzliche Bö zog einen Schleier wirbelnder Blätter über den Hohlweg.
Talawain duckte sich dicht über den Nacken des Rappen. Der Wind spielte mit seinem offenen Haar. Warmes Fell liebkoste seine Wange. Er spürte das Rauschen des Blutes unter dem seidigen Haar, den wilden Herzschlag des Hengstes, der den ausgelassenen Ritt ebenso genoss wie er. Der enge Waldweg öffnete sich auf eine Lichtung, die von einem prächtigen Herrenhaus beherrscht wurde. Doch hier waren der Natur Zügel angelegt. Kein goldenes Blatt lag auf dem gestutzten Gras, das viel zu grün für diese Jahreszeit war. Aber vielleicht hatte er auch zu viele Jahre in Königreichen verbracht, in denen die gnadenlose Sonne allzu schnell jedes Grün vergilben ließ.
Nahe beim Haus standen blühende Kirschbäume. Nun spürte Talawain deutlich die Vielzahl von Zaubern, die gewoben waren, um den natürlichen Ablauf der Jahreszeiten dem Willen des Hausherrn unterzuordnen. Fast hatte er vergessen gehabt, wie sehr sein Vater diese Spiele liebte, wie viel es ihm bedeutete, alles in seiner Umgebung zu beherrschen. Es war einer der Gründe gewesen, warum er vor über einem Jahrhundert in die Blaue Halle geflüchtet war. Damals hatte er der Tyrannei entfliehen wollen. Und nun war dies der einzige Ort in ganz Albenmark, an den er gehen konnte. Überall anderswo würde man ihn aufhalten. Und ausgerechnet sein tyrannischer Vater, der Schatten, der über seiner Kindheit lag, hatte diese Macht für immer verloren. Deshalb kam er hierher. Talawain wusste nicht, ob Solaiyn ihm helfen würde. Er war sich nur sicher, dass der alte Fürst ihm keine Fesseln mehr auferlegen konnte.