»Setz dich«, sein Vater deutete auf den großen Lehnstuhl vor dem Kamin. »Du siehst aus, als seist du sehr erschöpft. Soll ich dir etwas zu trinken bringen lassen?« Sein Tonfall war noch immer kühl und distanziert, und doch waren es die mitfühlendsten Worte, die er von seinem Vater je gehört hatte.
Talawain ließ sich in das weiche Leder sinken. Er starrte in den Kamin, auf die zusammengefegte Asche und versuchte für sich, seine Welt neu zu ordnen, in der alles verloren war, wofür er die letzten Jahrzehnte gelebt hatte.
»Du wirst wieder gehen, nicht wahr?«
Talawain blickte in das harte, ausgezehrte Gesicht des alten Elfen. Jetzt erst sah er die Traurigkeit, die dort regierte: die Falten, die Bitterkeit und der Ehrgeiz, sich auf keinen Fall irgendwelche Gefühle anmerken zu lassen. »Ja, ich werde wieder gehen. Ich bin hier, weil ich Eure Hilfe brauche. Weil Ihr der Einzige seid, dem ich im Augenblick vertraue.«
Erneut spielte ein dünnes Lächeln um Solaiyns Lippen. »Ich hätte nicht erwartet, so etwas je aus deinem Munde zu hören. Dass ich der Einzige bin, dem du noch vertraust. Es hört sich so an, als hättest du genauso wenig Freunde wie ich.«
»Meine Freunde sind tot. Und jene, die leben, werden mich nicht nach Daia zurückgehen lassen. Aber ich habe noch eine letzte Pflicht zu erledigen. Es ist eine Frage der Ehre.«
»Eine Frage der Ehre?«
Da war er wieder, jener sarkastische Tonfall, der Talawain und seinen Geschwistern die Kindheit und Jugend vergiftet hatte.
»Versteh mich nicht falsch, Junge. Ich werde dich nicht aufhalten. Ich möchte nur verstehen, warum du gehst. Alle sind gegangen, und bei deinen Geschwistern habe ich die Gelegenheit versäumt, sie zu fragen, womit ich sie vergrault habe.«
Talawain dachte daran, wie sein Vater am Fenster gestanden hatte, als er eingetreten war. Solaiyn war auf der Suche nach dem Weg, der ihn in die Einsamkeit geführt hatte. Wollte er ihn zurückgehen? Oder wollte er nur verstehen? Sein Vater sollte zumindest sein Leben kennen. Das schuldete er ihm. Und bald schon wäre er der Letzte, der es kennen würde. Talawain war sich nur zu bewusst, wie schlecht seine Aussichten waren, von der Reise zum Haus des Himmels zurückzukehren.
Und so erzählte er von seinem Leben, seinen Missionen im Dienst der Blauen Halle, den vielen Jahren, in denen er als Hofmeister des Unsterblichen von Aram die Geschicke eines Reiches entscheidend mitbestimmt hatte, das um ein Vielfaches größer war als Arkadien. Er berichtete auch von der Blauen Halle, seinen Freunden dort und von der Großmut und Weisheit des Himmlischen. Es war der Bericht seines Lebens.
Vor den Fenstern war es längst dunkel geworden. Sein Vater hatte ein Feuer im Kamin entfacht und sich einen weiteren Sessel geholt, als er zum Stehen zu müde geworden war. Nicht ein einziges Mal hatte Solaiyn ihn unterbrochen, als habe er Angst gehabt, ein falsches Wort könne den Redefluss seines Sohns zum Verstummen bringen.
Nachdem Talawain seine Erzählung beendet hatte, saßen sie lange schweigend beieinander und blickten ins Feuer. Es war ein angenehmes, verstehendes Schweigen. Eine Stille, die jedem Raum für seine eigenen Gedanken ließ.
»Du hattest ein erfüllteres Leben als ich«, sagte sein Vater schließlich. »Auch wenn ich die geflügelten Tyrannen nicht schätze, werde ich eine der Himmelsschlangen aufsuchen und ihr die Kopie von Rowayns Karte und deinen Bericht über die bevorstehende Versammlung der Devanthar und der Unsterblichen überreichen.«
»Danke.«
»Doch nun habe auch ich eine Bitte an dich. Sei dir dessen ganz bewusst, warum du gehst!«
»Es ist eine Frage der Ehre«, entgegnete Talawain und war auf der Hut. Der Abend war gut gewesen. Würde sein Vater zum Schluss doch wieder alles verderben?
»Ehre!«, sagte er spöttisch. »Ehre ist nicht mehr als ein Schleier, hinter dem sich stets dunkle Gefühle verbergen. Versteh mich nicht falsch, Junge, ich respektiere deinen Mut, daran scheint es dir wahrlich nicht zu fehlen. Lediglich an Verstand.«
Talawain seufzte und erhob sich. Wie hatte er hoffen können, dass sein Vater sich verändert hatte? Ihm fehlte es wohl tatsächlich an Verstand! »Es ist spät, ich werde mich zur Ruhe begeben.«
Solaiyn griff nach seinem Arm und hielt ihn zurück. »Bleib. Ich … Bitte verzeih mir, du kennst meine schroffe Art. Aber so soll es heute nicht enden. Ich wünsche mir nur, dass du dir über deine wirklichen Gefühle im Klaren bist, wenn du in deine letzte Schlacht in der Welt der Menschenkinder ziehst. Es wird dich stärker machen.«
»Und Ihr wisst etwas über meine Gefühle, Vater?«
»Glaub mir, Junge, ich hatte sehr viel Zeit, über falsches Ehrgefühl nachzudenken und so manches zu bedauern, was ich in meinem Leben getan habe. Ehre ist etwas, was noch weniger greifbar ist als die Liebe. Jeder versteht etwas anderes darunter. Die Ehre einer Frau kann in einer einzigen Liebesnacht vernichtet werden. Ich habe Gleiches aber noch nie über einen Mann gehört. Im schlimmsten Fall nimmt sein guter Ruf ein wenig Schaden, wenn er sich auf das Liebesabenteuer einlässt. Läuft ein Mann vor einem Kampf davon, ist seine Ehre dahin. Einer Frau – selbst einer Kriegerin – sieht man das nach. Und wie oft, wenn vermeintlich um die Ehre gekämpft wird, geht es in Wahrheit um dunklere Gefühle? Um verletzte Eitelkeit, den Wunsch nach Rache oder anderes … Wer für etwas Edles einsteht, der muss nicht die Ehre vorschieben, sondern nennt seinen Grund zu kämpfen beim Namen.«
Im ersten Moment war Talawain ärgerlich, und er wollte schon gehen, als ihm bewusst wurde, dass dies eine Flucht wäre. Diesmal würde er vor der Antwort fliehen, die sein Vater eingefordert hatte, und nicht vor der harschen Art Solaiyns.
Er blieb sitzen. Warum fiel ihm die Antwort so schwer? Tat er es wirklich für den Unsterblichen Aaron? Er würde ein besserer Herrscher sein, wenn er Shaya zur Seite hatte. Oder wollte er auf diese Weise Kazumi rächen, indem er Ištas Pläne durchkreuzte? »Ich glaube, ich tue es, weil Shayas Leben nicht verlöschen darf, und ich der Einzige bin, der dies noch verhindern kann.«
Sein Vater nickte. »Aber wohin soll die Prinzessin gehen, wenn du sie rettest? Sie kann niemals zu dem Unsterblichen zurückkehren, denn wenn sie erkannt wird, dann ist das ihr Tod, und auch dieser König Aaron wird in schwere Bedrängnis geraten. Zu ihrem Volk kann sie auch nicht mehr zurückkehren. Hast du dir das reiflich überlegt? Würde sie das Leben, das du ihr schenkst, wirklich haben wollen?«
»Ja.« Natürlich war er sich dieser Schwierigkeiten bewusst. Viele Nächte hatte er wach gelegen und darüber nachgedacht. Und es gab den einen einzigen, verzweifelten Weg, dieses Dilemma zu lösen.
Er verriet ihn seinem Vater.
Solaiyn sah ihn erschüttert an. Nie zuvor hatte Talawain Tränen in den Augen seines Vaters gesehen. Der alte Elf zog ihn an sich, hielt ihn in den Armen und wollte ihn gar nicht mehr loslassen. »Du bist ein besserer Mann, als ich es je war, mein Sohn. Ich bin stolz auf dich, und zugleich bin ich zutiefst verzweifelt über das, was du zu tun gedenkst.«
Der letzte Schlag
Der Goldene stieß in steilem Bogen hinab und flog nun dicht über der aufgewühlten See der weiten Meeresbucht entgegen, deren schwarze Klippen sich wie steinerne Wächter vor ihm erhoben. Gischt sprühte über seine weit gestreckten Flügel und perlte von seinem Schuppenleib ab. Wilde Böen griffen nach ihm, als wollten sie ihn von seinem Ziel fortzerren, jenem Höhleneingang, der nicht weit über der Tidenmarke im Fels klaffte. Im letzten Augenblick legte er die Flügel an den Leib, ließ sich von seinem Schwung weitertragen und landete mit vorgestreckten Krallen auf nassem Basalt. Leicht schlitternd kam er schließlich zum Halt.