Wäre ich an Stelle der Devanthar, dann wäre dies genau die Reaktion, auf die ich hoffen würde, wandte der Smaragdfarbene ruhig ein. Dies hier ist erst der Anfang. Sie erwarten, dass wir ihnen in kopfloser Wut folgen, um uns in eine Falle zu locken und alle miteinander zu vernichten. Dies ist ein Schlachtplan, der ihrer Heimtücke entspricht.
Wie könnten wir auf eine solche Provokation nicht reagieren, Brüder?, empörte sich der Nachtblaue. Er hatte seine Krallen tief in den Boden gegraben. Sein dunkler Leib war angespannt wie bei einem Raubtier, kurz bevor es seine Beute anspringt. Sind es Hasenherzen, die in eurer Brust schlagen, Brüder? Wie könnt ihr zögern zu kämpfen?
Steckt ein Hasenhirn in deinem Schädel?, entgegnete der Goldene. Nachtatem vermochte seinen Bruder kaum anzuschauen, so hell brach sich das Sonnenlicht auf seinen Schuppen. Es schien, als sei er kein Geschöpf aus Fleisch und Blut, sondern allein aus Luft und Sonnenstrahlen gewoben.
Wer ohne Plan in die Schlacht zieht, der liefert sich seinem Gegner aus. Versteh mich nicht falsch, Bruder, auch ich will ihr Blut schmecken, doch es wird umso süßer sein, wenn sie uns ausgeliefert sind. Dies hier war ein Sieg der Devanthar. Wir müssen dies anerkennen und kühlen Kopf behalten.
Fehlt dir der Mut, für unseren Bruder zu kämpfen? Den Tod unserer Elfen zu rächen? Sie haben uns treu gedient. Sie haben ihre Leben für uns gewagt. Sie waren unsere Augen an all den Orten, die wir nicht betreten konnten. Nun sind uns diese Augen herausgerissen worden, und du sagst, wir müssen diesen Sieg der Devanthar anerkennen. Ist es für dich so, als hätten wir nur eine Figur auf einem Spielbrett verloren? Diese Elfen hatten sich uns verschrieben, und du tust ihren Tod mit kühlem Kopf und einem Achselzucken ab? Der Nachtblaue schien jeden Augenblick über den Goldenen herfallen zu wollen. Aus seinen Augen sprühten Hass und Verachtung. Der Himmlische hatte stets ausgleichend auf seine Brüder gewirkt. Sie hatten mehr als nur einen Bruder verloren, dachte Nachtatem und schob seinen Leib vor den Goldenen. Die Balance zwischen tollkühnem Mut und Besonnenheit würde ihnen ohne die Weisheit des Himmlischen entgleiten.
Keiner von uns hat gesehen, was hier geschehen ist. Nachtatem blickte zum Leichnam eines Kobolds, der halb verborgen unter einem Haselbusch lag. Er war Zeuge des Zaubers gewesen, der hier gewirkt worden war. Und es schien ihm nicht gut bekommen zu sein. Ich sehe keine Wunden auf seinem Leib. Was mag ihn getötet haben? Nachtatem hoffte darauf, die Aufmerksamkeit seiner Brüder abzulenken und so verhindern zu können, dass der Streit weiter eskalierte. Er hatte keine Ahnung, was den Kobold umgebracht hatte. Aber wenn der Nachtblaue und der Goldene voneinander abließen, war der Kobold zumindest nicht vergebens gestorben.
Der Smaragdene zog den Kobold unter dem Gebüsch hervor, tastete über dessen Leib und zwang schließlich mit seinen Krallen den Mund des Toten auf. Dünner, hellblauer Rauch quoll über die Lippen des Kobolds.
Nachtatem nahm Witterung auf. Es roch nach verbranntem Fleisch.
Die Krallen des Smaragdenen tasteten weiter über den Leib des Kobolds. Seine Klaue spannte sich, spaltete ohne Mühe das Brustbein des Kobolds und teilte Fleisch und Knochen bis hinab zu den Lungen. Noch mehr Rauch stieg aus dem Kadaver auf. Nun war er von dunklerer Farbe.
Er ist von innen heraus verbrannt. Die Krallen des Smaragdenen griffen nach dem Kopf des Toten. Es kam von seiner Stirn. Durch sein Verborgenes Auge. Es war … Der Schwanz der Himmelsschlange peitschte durch das niedergetrampelte Gras. Es war das Licht der Magie, das ihn getötet hat. Er hat gesehen, was nicht für Sterbliche bestimmt war. Der Smaragdene hob sein Haupt und sah sie einen nach dem anderen an. Wir müssen den Alben berichten, was hier geschehen ist.
Glaubst du, ein solcher Zauber könnte ihnen entgangen sein?, spottete der Goldene.
Es war ein Gedanke, den sie alle gehabt hatten. Doch jeder ging anders damit um. Nachtatem nahm wieder Verbindung zu seinen Brüdern auf und spürte Zorn, aber auch Niedergeschlagenheit. Allein der Goldene reagierte ungewöhnlich. Er schien es nicht anders erwartet zu haben. Ja, es kam Nachtatem fast so vor, als sei er zufrieden damit, dass sich die Schöpfer ihrer Welt für nichts mehr interessierten.
Ihr alle habt gespürt, wie das magische Netz erbebte, erhob sich plötzlich die Stimme des Goldenen in ihren Gedanken. So stark, dass diese Macht auf die stoffliche Welt übergriff. Ich bin sicher, dass zumindest nahe der großen Albensterne die Erde bebte. Die Devanthar haben eine Macht entfesselt, die Welten erschaffen oder vernichten kann. Ihnen einfach nachzusetzen wäre töricht. Aber glaubt mir, von nun an kenne ich nur noch einen Gedanken: Ich will ihr Blut vergossen sehen! Und ich werde nicht zu den Alben gehen, um sie um ihre Erlaubnis zu fragen.
Es erschreckte Nachtatem zu spüren, wie umfassend die Zustimmung seiner Brüder war. Nun also war der Bruch mit den Alben besiegelt. Er musste einschreiten. Und wenn es das ist, was die Devanthar wollen? Vielleicht möchten sie als Erstes einen Keil zwischen die Alben und uns treiben. Und glaubt ihr wirklich, wir könnten die Devanthar besiegen? Sie sind Weltenschöpfer. Wenn sie ihre Macht vereinen, dann sind sie uns um ein Vielfaches überlegen.
Du willst also feige warten, bis sie erneut zuschlagen?, begehrte der Flammende auf.
Ich will, dass sie uns nicht noch einmal so schwer treffen wie an diesem Tag. Sie sind nach der Vernichtung der Blauen Halle nach Daia zurückgekehrt, das glaubt ihr doch? Was hindert sie daran, von dort auf einem anderen Albenpfad zur Weißen Halle zu ziehen? Wir müssen damit rechnen, dass dies nicht ihr einziger Angriff bleibt. Schützen wir die Weiße Halle! Wir müssen sie auflösen. Und wir müssen unsere Refugien auf ihre Angriffe vorbereiten. Wenn sie wussten, wo die Blaue Halle zu finden ist, wer von uns kann dann sagen, was sie noch alles wissen? Nachtatem spürte ihre Sorge nach seinen Worten. Und zumindest der Smaragdene und der Goldene waren sich sehr wohl bewusst, dass die Devanthar mächtiger waren als sie. Ein unbedachtes Vorgehen würde nur zu ihrem Untergang führen. Nun waren seine Brüder auch in der Stimmung, einem ganz anderen Plan zuzuhören. Einem Plan, über den er schon lange gebrütet hatte.
Ich weiß, wie wir den Devanthar schweren Schaden zufügen können. Teilt meine Gedanken, und dann lasst uns in aller Eile aufbrechen, auf dass wir schützen, was uns anvertraut wurde. Schüler und Meister der Weißen Halle müssen sich in alle Winde zerstreuen.
Der Goldene war erbost, doch Nachtatem hatte mit nichts anderem gerechnet. Seine übrigen Nestbrüder aber stimmten zu. Ja, sie waren begeistert.
Die Devanthar würden den Tag bereuen, an dem sie zur Blauen Halle gekommen waren.
Die Bettlerin
Die Doppelmonde Nangogs waren schon weit über den Himmel gewandert, als Barnaba sie sah. Auf den ersten Blick schien sie nur eine Bettlerin zu sein. Sie schlich über den weiten Platz vor der Goldenen Pforte. Das Tor jedoch war geschlossen, was selten geschah. Kaum je ebbte der Strom von Menschen und Lasttieren ab, der, wie die Gezeiten des Meeres, mal in die eine, dann in die andere Richtung wogte. Nach dem Beben war er jedoch versiegt.
Barnaba glaubte, die Unruhe, die auf der Stadt lastete, noch immer spüren zu können. Die Goldene Stadt klang anders. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass er hier zum ersten Mal nicht wohlbehütet in einem Tempel oder Palast nächtigte, sondern auf einem offenen Platz wie ein Bettler.