»Dort oben vom Bergkamm aus müsste man Selinunt sehen können«, erklärte Gonvalon, kaum dass sie den Rand des Fichtenhains erreicht hatten. »Wollen wir wetten, dass der Palastelf schneller oben ist als du?«
»Vielleicht in fünfhundert Jahren, wenn ich vor der Zeit altere und am Stock gehe!« Sie blickte den Hang hinauf. Er war relativ steil. Das helle Frühlingsgras, noch feucht vom Morgentau, würde den Aufstieg nicht erleichtern. »Wenn ich gewinne, wirst du meine Decke, den kleinen Topf und meine Vorräte für die nächsten beiden Tage tragen.«
»Du weißt, dass wir Palastelfen ganz schlechte Packesel abgeben? Am Ende wirst du die Sachen zurückhaben wollen, damit ich dein Tempo beim Wandern mithalten kann.«
»Sehe ich nachsichtig aus?«, fragte sie grinsend. »Und im Übrigen musst du doch ein Esel sein, wenn du dich mit mir auf eine solche Wette einlässt.« Mit diesen Worten eilte sie los.
»Du betrügst!«, schimpfte er hinter ihr und beeilte sich, die Verfolgung aufzunehmen.
Am Ende gewann er das Rennen mit mehr als zehn Schritten Vorsprung. Es hatte ausgesehen, als würde er über das Gras fliegen, so leichtfüßig war er den Hang hinaufgeeilt. Mit einem Seufzer ließ Nandalee sich neben ihm nieder. Sie rasteten ein paar Schritt unterhalb des Hangs, damit ihre Silhouetten nicht vor dem hellen Morgenhimmel zu sehen waren.
Ihre Waden brannten, sie atmete keuchend. Heute war sie einfach nicht in Form. Schon nach dem Aufstehen war ihr übel gewesen. Vielleicht hatte sie irgendeines der Kräuter, mit denen sie das Abendessen verfeinert hatte, nicht vertragen.
»Der Esel hatte vorhin ganz vergessen zu fragen, was dein Wetteinsatz ist.«
»Such dir was aus«, murmelte sie, immer noch etwas außer Atem. Was war nur mit ihr los, dass ein kurzer Hanglauf sie so außer Puste brachte?
»Nach fünf Tagen, an denen es Kaninchenragout in allen kulinarischen Finessen gab – gar, halbgar, angebrannt, mit ein paar Fichtennadeln drin oder Kräutern, die keine Ziege fressen würde –, wäre ich froh, wenn es heute ein Abendmahl geben könnte, in dem ich kein Kaninchenohr finde«, sagte Gonvalon und betrachtete sie amüsiert.
»Was ist an Kaninchenohren auszusetzen?«
»Ich fürchte, man muss ein Palastelf sein, um das zu verstehen.« Er küsste sie auf die Stirn. »Es muss doch etwas anderes geben, das meine große Jägerin schießen kann.«
Er hatte leicht reden, dachte sie. Er ging ja nicht auf die Jagd. Was das Wild in den Bergen anging, hatten sich die Menschenkinder eindeutig nicht so klug wie mit den Bäumen verhalten. Sie hatte ja nach Fährten gesucht. Aber es gab keine Ziegen oder Steinböcke, keine Wölfe oder Bären. Nichts, was größer war als ein Kaninchen, hatte überlebt. Und selbst die waren schwer aufzuspüren. »Essen Palastelfen Eichhörnchen?«
»Alles ohne Hasenohren ist willkommen«, entgegnete er gut gelaunt.
Sie erwog, einen Hasen zu erlegen und einfach die Ohren zurückzulassen, wenn sie ihn ausweidete. Nandalee war sich ziemlich sicher, dass er den Unterschied nicht bemerken würde, wenn sie das kleingeschnittene Fleisch garte.
»Komm, sehen wir uns die Stadt an.« Gonvalon robbte das letzte Stück den Hang hinauf.
Sie wollte ihm folgen, als ein Krampf sie zusammenzucken ließ. Ein Gefühl, als kralle sich etwas tief in ihr fest. Sie presste sich beide Hände auf den Leib, atmete flach und kämpfte gegen den Schmerz an, als er genauso plötzlich verschwand, wie er gekommen war.
Nandalee war in kalten Schweiß gebadet. Was war das?
»Ist alles in Ordnung?« Gonvalon lief geduckt zu ihr zurück. »Was ist los?«
»Wadenkrampf«, stieß sie hervor. »Geht schon wieder.«
Er kniete neben ihr nieder. »Welches Bein?«
»Links.«
Er streckte geübt die Muskeln und massierte dann ihre Wade. »Besser?«
Sie nickte und fühlte sich schlecht, ihn angelogen zu haben. Er würde das niemals tun.
»Komm, es ist wirklich schön.« Er stützte sie, und gemeinsam stiegen sie das letzte Stück hinauf und gingen in Deckung, sodass sie für etwaige Beobachter unten im Tal unsichtbar blieben.
Der Anblick war atemberaubend. Selinunt hatte sich wahrlich den Namen »Weiße Stadt« verdient. Alle Gebäude waren aus Marmor errichtet: Paläste, Tempel, Wohnhäuser, das Aquädukt, einfach alles. Strahlend wie frisch gefallener Schnee lag die Stadt im Tal. Es gab keine einfachen, schmucklosen Häuser, nur Prachtbauten. Dazwischen wanden sich wie große, schwarze Schlangen die Straßen, die im Sonnenlicht spiegelten, als seien die großen Granitplatten, aus denen sie gefügt waren, poliert worden. Eine Straße jedoch, die vom Eingang des weiten Tales pfeilgerade ins Herz der Stadt führte, unterschied sich von allen anderen. Sie war wie die Mauern der Paläste aus weißem Marmor erbaut. Gewiss war dieser Weg allein den Herrschern vorbehalten.
Wohin Nandalees Blick auch schweifte, alles, was sie sah, war von vollendeter Form. Selbst die weniger aufwendig gestalteten Dächer, die statt mit Marmor mit Schindeln in einem warmen Orangerot gedeckt waren, prunkten an ihren Giebeln mit Goldbeschlägen. Und nicht nur da sah die Elfe Gold. Auf einigen Plätzen und bei den Brunnen, die das Aquädukt speiste, erhoben sich überlebensgroße Statuen aus dem edlen Metall, die den Herrscher, Kriegsszenen, aber auch Meerestiere und Nymphen zeigten.
»Wirklich schön für Menschenwerk«, gestand sie. »Wahrscheinlich werden sie uns verbieten, mit unseren schmutzigen Stiefeln die Stadt zu betreten.«
»Als Jäger fallen wir sicher nicht auf.« Gonvalon deutete auf lange Reihen von Zelten, die im Westen der Stadt aufgeschlagen worden waren. Dahinter lagen Koppeln, auf denen Vieh stand. »Dort werden sie morgen das Essen bereiten.«
Nandalee überlegte, auf welchem Weg sie am besten in die Stadt gelangen konnten. Überall patrouillierten Wachen in Bronzerüstungen mit weißen Federbüschen auf den Helmen und langen, weißen Umhängen. Abgerissene Gestalten, wie sie beide, waren auf dem Opferfest morgen sicher nicht erwünscht.
»Mit dem hübschen Umhang, den Nachtatem mir geschenkt hat, werde ich ganz sicher durchgelassen«, sagte Gonvalon mit seltsam tonloser Stimme.
»Für einen Dieb werden sie dich halten, so wie du aussiehst. Ich verstehe nicht, warum er ihn dir mitgegeben hat. Wir tragen diese schäbigen Kleider, und dann hast du einen Umhang im Gepäck, der unter Menschenkindern eines Prinzen würdig wäre. Das ergibt keinen Sinn. Am besten wirfst du ihn einfach weg.«
»Das würde ich wirklich gerne.« Er wirkte bedrückt. »Aber die Geschenke von Himmelsschlangen zu missachten ist keine gute Idee. Zumal dann, wenn man ohnehin nicht hoch in ihrer Gunst steht.«
Nandalee entschied, auf diesem Thema nicht länger herumzureiten. In seinem Gepäck war der Umhang ja sicher verborgen. Es würde schon keinen Ärger geben. »Steigen wir hinab und sehen uns die Stadt aus der Nähe an?« Sie wies hinter ihnen den Hang hinab. »Ich glaube, dort unten liegt der Weg, den die Jäger und Holzfäller im letzten Jahr benutzt haben.« Sie blickte zurück über die friedliche Berglandschaft, die hinter ihnen lag. Keine Stadt, die je gebaut würde, könnte mit der Schönheit der Wildnis konkurrieren. Nandalee war froh, dass Nachtatem ihnen eine so leichte Mission übertragen hatte und Gonvalon sie begleiten durfte, obwohl er kein Drachenelf mehr war. Endlich hatte sie eine Aufgabe, bei der es nicht um Tod und Vernichtung ging.
Sie robbte den Hang zurück und richtete sich auf. Gonvalon folgte ihr. Plötzlich zog er sie an sich und küsste sie. »Ich liebe dich!«, sagte er, als er sich atemlos von ihr löste. Er hatte mit solcher Leidenschaft gesprochen, dass es sich unter anderen Umständen wie ein verzweifelter Abschied angehört hätte.
Shayas Vermächtnis
Schon als sie eintrat, sah Shaya der Mutter der Mütter an, dass ihr etwas auf dem Herzen lag. Der Titel der Hohepriesterin im Haus des Himmels wollte nicht so recht zu der jungen Priesterin passen, die vor ihr stand. Kara vermied es, ihr in die Augen zu sehen.