»Es ist eine Nachricht vom Unsterblichen Labarna gekommen«, sagte sie leise. »Es geht um …« Sie trat einen Schritt von Shaya zurück. »Es geht um deine Ermordung.«
Trotz des Themas musste Shaya lächeln. »Meine Ermordung? Ich glaube, dir fehlt die innere Einstellung, dieses Kloster zu führen. Ich opfere mich dem Land. Das ist …« Jetzt versagte auch ihr die Stimme. Sie hatte sich in ihr Schicksal gefügt und akzeptiert, dass es für sie keinen Ausweg gab. Ganz offen darüber zu reden war allerdings eine andere Sache.
Sie zog an der langen, goldenen Kette, die verhinderte, dass sie ihr Zimmer verlassen konnte, und ließ die schweren Glieder durch ihre Hände gleiten. Das kühle, glatte Metall zu spüren hatte etwas Beruhigendes.
»Es ist meine Schuld«, sagte die junge, pausbäckige Frau. »Ich habe die Briefe dieses Tempelschreibers aus Isatami nicht ernst genommen. Immer ereiferte er sich darüber, wie unbedacht der Zeitpunkt für das Ritual deiner Opferung gewählt sei. Ich hätte nie gedacht, dass er etwas bewirken könnte! Labarna ist sehr auf Traditionen bedacht. Er ändert nicht einfach ein althergebrachtes Ritual.«
Shaya verstand nicht. »Wovon redest du?«
»Deine Opferung. Dein Tag wäre gekommen gewesen, wenn der Kirschbaum in unserem Garten blüht. So war es immer, wenn eine Prinzessin in der Himmlischen Hochzeit kein Kind empfangen hat. Aber dieser Priester fand, dass sei viel zu spät für ein Fruchtbarkeitsritual, da fast im ganzen Königreich die Zeit der Blüte schon vorüber ist, wenn sie bei uns beginnt. Ich habe ihn ignoriert und auf die Tontafeln, die er schickte, nicht geantwortet …« Kara versagte die Stimme. Jetzt rannen ihr Tränen über die Wangen.
»Was ist denn geschehen?«
»Dieser Tempelschreiber muss sich an Labarna gewandt haben. Vor einer Stunde überbrachte mir ein Bote einen Befehl des Unsterblichen. Von diesem Jahr an und für alle Zukunft werden wir uns nicht mehr nach der Blüte unseres Baums richten. Ich habe Befehl, dich zur Mittagsstunde am Tag des Opferfestes deinem Schicksal zu übergeben. Er hat Krieger mit dem Boten geschickt, die sicherstellen sollen, dass sein Befehl ausgeführt wird.«
Shaya trat ans Fenster, öffnete es und blickte über die weiten Klostergärten. Es war ein kalter Morgen. Raureif hatte sich in den Hecken eingenistet, und noch immer war nicht aller Schnee geschmolzen. Deutlich sah Shaya den großen Kirschbaum. Es würde noch Wochen dauern, bis er Blüten trug. »Wann ist das Opferfest?«
Die Mutter der Mütter antwortete so leise, dass Shaya sie nicht verstand.
»Wann?«
»Morgen.« Das Wort war nur gehaucht, und doch traf es Shaya wie Donnerschlag.
Morgen! Sie dachte, sie sei auf den Tod vorbereitet, doch dass ihr von der kurzen Lebensspanne, die ihr noch verblieb, nun Wochen gestohlen wurden, erfüllte sie mit brennendem Zorn. Und zugleich raubte es ihr alle Kraft.
»Morgen«, sagte sie laut, als könne sie dem Wort etwas von seinem Grauen nehmen, wenn sie es nur aussprach. Seit ihr Vater sie an den Wandernden Hof zurückgerufen hatte, um sie zu vermählen, war ihr Leben von bitterster Ungerechtigkeit erfüllt gewesen. Dieser letzte Schlag fügte sich in die lange Reihe der Grausamkeiten, die das Schicksal ihr beschert hatte. Sie drückte ihren Rücken durch, stand gerade und kämpfte gegen den Kloß an, der in ihrem Hals saß. Sie war eine Kriegerin, das war das Einzige, was sie ihr nicht stehlen konnten. Sie würde nicht weinen und nicht länger hadern. Sie würde sich ihrem Schicksal stellen.
»Lass feuchte Tontafeln holen, Kara.«
»Du willst weiterarbeiten? An deinem letzten Tag?«
»Wir werden das Buch nicht vollenden können, aber zumindest werde ich dir noch alle wichtigen Dinge über die Allwurzel erklären können. Er ist eine besonders heilkräftige Wurzel. Wenigstens dieses Kapitel muss noch vollendet sein. Und da ist noch etwas. Ich möchte, dass mein Name nicht mit diesem Buch in Verbindung gebracht wird.«
»Das geht nicht.« Kara wirkte verstört. »Es ist doch fast ausschließlich dein Wissen, das darin …«
»Nein«, unterbrach Shaya sie. »Ich habe es mir nicht erarbeitet so wie du deine Kenntnisse über Kräuter und über die Heilkunde. Es war ein Geschenk. Und deshalb ist es nun mein Geschenk an dich. Außerdem solltest du pragmatisch denken. Welchen Wert hätte ein Buch dieser Art, das unter dem Griffel einer Barbarenprinzessin entstand? Die Priesterschaft würde es belächeln. Nach ein paar Jahren schon würde es völlig in Vergessenheit geraten. Niemand würde es kopieren und weiterverbreiten. Kommt dieses Buch aber von der Mutter der Mütter im Haus des Himmels, dann ist es ein heiliges Buch voller gesegneter Weisheit.« Shaya lachte leise, fast fröhlich. »Lass uns den engstirnigen Priestern und Heilern einen Streich spielen. Lass sie das Vermächtnis einer Prinzessin aus Ischkuza studieren.«
Kara sah sie skeptisch an. Shaya wusste, dass sie viel zu ehrlich für jeglichen Betrug war, also fuhr sie rasch fort: »Etwas nicht zu sagen ist keine Lüge, meine Freundin. Und bedenke auch, du warst es, die alles niedergeschrieben hat. Es ist also tatsächlich dein Buch. Vor allem aber ist es mein letzter Wunsch, dass du so verfährst. Du wirst einer Todgeweihten doch nicht ihre letzte Bitte abschlagen?«
Die Augen der Priesterin füllten sich mit Tränen. Endlich nickte sie. »Ich hole die Tafeln«, sagte sie leise und verließ das Zimmer.
Shaya trat wieder an ihr Fenster. Sie mochte den Blick über das weite Tal. Er hatte ihr in den letzten Wochen Frieden gegeben. Tief atmete sie die schneidend kalte Luft des weichenden Winters ein. Sie betrachtete den steilen Berg, der wie ein riesiger Turm das Tal überragte. Der Wind ließ Schneewirbel um seinen Gipfel tanzen. Sie dachte an Shen Yi Miao Shou, den Heiler vom Seidenfluss, den ihr Vater vor fast einem Jahr an den Wandernden Hof berufen hatte, um ihre Jungfräulichkeit wiederherzustellen. In der Nacht seines Todes hatte er ihr sein Wissen über die Heilkunde geschenkt. Es war eine magische Nacht gewesen, und bis heute vermochte sie sich nicht zu erklären, wie genau dies vonstattengegangen war. Sie wollte es auch gar nicht genau wissen, denn jedes aufgedeckte Geheimnis entzauberte die Welt ein wenig mehr.
Karas Schritte erklangen auf dem Flur. Sie trug ein Brett herein, auf dem mehrere feuchte Tontafeln lagen, und stellte es auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers ab.
»Bist du bereit?«
Die Mutter der Mütter zog einen der beiden schön geschnitzten Elfenbeingriffel aus dem Etui an ihrem Gürtel. »Lass uns dein Vermächtnis vollenden.«
Ihre Feierlichkeit rührte Shaya. Sie konnte sie nicht ansehen, oder sie würde von der Traurigkeit angesteckt werden, gegen die die Priesterin, die zu ihrer Freundin geworden war, nicht einmal anzukämpfen versuchte.
Shaya wandte sich ab, blickte zu dem fernen, windumtosten Gipfel und begann, leise zu sprechen. »Die Allwurzel ist von Magie durchdrungen und von großer Heilkraft. Sie ähnelt in ihrer Gestalt dem Leib eines Menschen. Ihr Blattwerk ist unscheinbar. Sie gedeiht nur an schattigen Orten im Wald. Man benötigt Tageslicht, um sie zu finden, doch die beste Zeit, sie zu ernten, ist eine mondhelle Nacht. Wer bei Tage eine Allwurzel entdeckt, der soll eine rote Schnur um sie schlingen. Die Schnur bannt ihre Magie. Tut man dies nicht, so wird sich die Wurzel davonschleichen und in der Erntenacht nicht mehr zu finden sein.«
Sie wünschte, sie wäre eine Allwurzel, dachte Shaya, und dass sie sich einfach davonschleichen könnte. Ihre Hände schlossen sich fest um das Fenstersims. Sie kämpfte gegen den süßen Schmerz in ihrer Brust an. Was für kindische Gedanken, schalt sie sich stumm. Dann fuhr sie fort, ruhig über die Allwurzel zu sprechen, die richtig angewandt so viele Krankheiten zu besiegen vermochte.
Ein Becher voll Wein
Iwar mochte die verdammten Berge nicht. Und er mochte es nicht, den Abgrund zwischen den Welten zu überschreiten. Er war der Unsterbliche von Drusna, und nun war er ausgerechnet in Valesia, dem Land, dessen Herrscher ihm den letzten Stolz genommen hatte. Alle hier wussten das! Wenn es möglich wäre, würde er überhaupt nicht vor sein Zelt treten und sich ihren hämischen Blicken ausliefern.