Wann immer er zurückdachte, konnte er nicht klar benennen, wann sein Unglück angefangen hatte. Hatte er sich zum Krieg verleiten lassen? Immer schon hatte es Streitigkeiten an der Grenze zwischen Drusna und Valesia gegeben: Viehdiebstähle, kleinere Plünderzüge und Scharmützel. Es war Arcumenna, der die Regeln in diesem Spiel verändert hatte. Mehr und mehr Krieger waren in die Kämpfe hineingezogen worden, und Arcumenna siegte immer. Das hatte es vorher noch nicht gegeben. Zuletzt war Iwar keine Wahl geblieben, als einem Frieden zuzustimmen, bei dem ihr Reich noch schlimmer ausgeplündert wurde als während der Kriegszüge. Er hatte die Arbeiter ernährt, die diese verfluchte Weiße Stadt erbaut hatten, in der sie morgen feiern sollten. Er wollte nicht dort sein, und doch musste er. Der Große Bär, sein Devanthar, war sehr deutlich geworden, was das Fest anging.
Iwars Finger trommelten gegen das kleine Glasfläschchen, das Arcumenna ihm gerade erst gebracht hatte. Nun sollte er den beliebtesten Mann seines Königreiches vergiften, den Hauptmann seiner Leibwache, Volodi von Drei Eichen. Jeder einzelne Drusnier, ob jung oder alt, kannte Volodis Namen. Er war der Erste seit Jahren gewesen, der die Valesier besiegt hatte. Aber er war ja auch nicht gegen Arcumenna angetreten, dachte Iwar säuerlich. Volodis Siege zählten nicht! Verdammter, falscher Held. Er hatte genug davon, ihn jeden Tag um sich zu haben. Mit anzusehen, wie er für alle bei Hof eine Lichtgestalt war.
Iwar strich sich über den Wanst. Er war fett geworden, das stimmte. Aber er wusste, wie man einen Bauch wieder klein schwitzte. Er musste raus in die Wälder, wenn das alles hier vorbei war. Einfacher leben. Jagen, mit den Leuten auf den Feldern sprechen. Er wusste, was seine Untertanen mochten. Aber zunächst musste Volodi verschwinden. Er hatte sich den Platz in ihren Herzen erobert, der nur ihm, dem Unsterblichen, zustand.
Iwar zog den Kork aus dem Fläschchen und leerte es in einen Weinkrug, der gerade noch voll genug war, um einen Pokal zu füllen. Neugierig schnupperte er an dem Wein. Es war ein guter, schwerer Wein von den Ägilen. Er roch fruchtig. Da war nichts Ungewöhnliches. Arcumenna hatte ihm erklärt, dass das Gift erst in ein paar Stunden wirken würde. Volodi würde ganz ruhig entschlummern, und diese verdammte Hexe aus Zapote sollte erdrosselt werden. Dann würde Arcumenna die beiden Leichen in der Nacht für immer verschwinden lassen.
Weil auch die Valesier Volodi loswerden wollten, würden sie nach seinem Tod nur noch halb so viele Abgaben einfordern. Iwar konnte das als Erfolg verkaufen. Seine Untertanen würden ihn wieder lieben, weil jeder etwas davon hatte, von einem Teil seiner Lasten befreit zu werden. Dann wären dieser verfluchte Volodi und seine Hexe bald vergessen.
Er schwenkte noch einmal den Krug. Arcumenna hatte gesagt, das Gift sei stark genug, um damit zwei Stiere zu töten. Das sollte genügen.
»Wache!«, rief er dröhnend. »Schaffe mir den Hauptmann her. Ich habe etwas mit ihm zu bereden.«
Iwar stellte den Krug auf den Tisch und daneben einen goldenen Pokal, wie er ihn selbst benutzte, und füllte ihn aus dem Krug. Das würde diesem Spatzenhirn Volodi gefallen, aus einem goldenen Becher zu trinken wie sein Unsterblicher. Dann nahm er seinen eigenen Weinpokal und stellte ihn ganz ans Ende des langen Tisches, der das Zelt beherrschte. Weit weg von dem Pokal mit dem Gift.
»Erhabener?« Volodi trat einfach in das Zelt. Jeder andere wartete draußen, bis er hineingerufen wurde. Wie er diesen Mistkerl hasste! Ihn den halben Winter am Königshof gehabt zu haben war eine Qual gewesen!
Eine eisige Bö fuhr durch das Zelt. Sie hätten diese Versammlung im Sommer einberufen sollen. Iwar ließ sich auf seinem großen, hölzernen Lehnstuhl nieder. Der Stuhl knarrte leicht unter seinem Gewicht. Früher hatte er das nicht getan.
»Herr?«
Das war ganz Volodis Art. Ihn zu bedrängen! Ihn, den Unsterblichen. »Sind die Zapote inzwischen eingetroffen?«
»Nein, Erhabener. Eben ist der Unsterbliche von den Schwimmenden Inseln mit seinem Gefolge angekommen. Die Zapote fehlen noch immer. Aber morgen werden sie gewiss da sein.«
»Was macht dich da so sicher, Volodi?«
»Es ist der Wunsch der Götter, dass wir uns hier versammeln, Erhabener. Niemand fordert die Götter heraus. Nicht einmal die verdammten Schlangenpriester.«
»Dein Weib stammt doch auch aus dieser Priesterbrut, nicht wahr?«
Volodis Gesicht verdüsterte sich. Sein Blick wurde hart. »Sie ist anders«, sagte er entschieden.
»Man hat mir zugetragen, sie ermordet gerne schwarze Hühner.«
»Schwarze Hähne sind es, Herr.«
Iwar schnalzte mit der Zunge. »Tja, die Weiber und ihre Marotten. Ohne sie wäre die Welt ein langweiliger, friedfertiger Ort.« Er griff nach seinem Weinpokal. Das schwere Gold fühlte sich angenehm kühl an. »Komm, trink mit mir, Volodi. Auf die Weiber.«
Er sah dem Hauptmann an, dass er keine Lust hatte, mit ihm zu zechen. Es aber nicht zu tun, wäre eine grobe Beleidigung.
»Auf die Weiber!« Volodi hob feierlich den Pokal und trank einen Schluck.
War das genug? Er sollte besser ganz sichergehen. Volodi war ein harter Kerl. Er durfte das hier auf keinen Fall überleben. »Du hast nie eine Schlacht verloren, nicht wahr? Kannst du Arcumenna besiegen?«
»Mit genügend Männern ganz sicher!«
Ekelhaft, dieses Selbstbewusstsein. »Würdest du für mich gegen Arcumenna ins Feld ziehen?«
»Nichts lieber als das, Erhabener«, sagte der Hauptmann voller Begeisterung. »Es ist an der Zeit, dass wir das valesische Joch abschütteln.«
»Im Sommer, Volodi. Im Sommer! Trinken wir darauf. Auf die Freiheit Drusnas!«
»Auf die Freiheit Drusnas!«, nahm Volodi den Trinkspruch begeistert auf. Und diesmal leerte er seinen Pokal bis zur Neige.
Gut, dachte Iwar. Sehr gut! »Ich möchte dich nicht weiter von deinen Pflichten abhalten, Hauptmann. Bitte berichte mir umgehend, wenn die Zapote eintreffen. Die möchte ich mir gerne ansehen.«
Der Hauptmann verneigte sich zackig und verließ das Zelt.
»Lebe wohl, Dummkopf«, sagte Iwar leise und brach in Gelächter aus. »Wieder einmal ist ein großer Mann dem Wein zum Opfer gefallen.« Er stellte sich vor, wie Volodi in dieser Nacht einfach in den Tod hineinschlafen würde. Was für ein jämmerliches Ende für einen großen Recken.
Die Gerechtigkeit des Unsterblichen
Aaron trat aus dem großen, roten Zelt und blickte über das prächtige Lager, das sich über eine Meile am Fluss entlang erstreckte. Hundert Boote waren am Ufer vertäut, und immer noch kamen neue hinzu. Vor einer Stunde erst war der Unsterbliche der Schwimmenden Inseln mit einer ganzen Flotte schillernder Katamarane eingetroffen. Ein jedes der doppelrümpfigen Boote wurde von zwei Tierköpfen auf den beiden Vordersteven überragt. Fischreiher, ein paar Haie, verschiedene Echsen, wie Aaron sie noch nie gesehen hatte. Kein Boot glich dem anderen.
Jetzt schlugen die Männer von den Inseln ihr Lager auf. Sie errichteten Hütten aus Schilfmatten, die sie mitgebracht hatten. Einige großgewachsene Krieger sahen zu ihm herüber. Sie schienen seine Blicke bemerkt zu haben. Ihre Gesichter waren tätowiert. Dunkelblaue Muster wanden sich auf haselnussbrauner Haut.
Aaron winkte ihnen zu. Sie sahen zum Fürchten aus. Bei der großen Parade morgen würden sie sicherlich einiges Aufsehen erregen.
»Unsterblicher, auf ein Wort!«
Aaron hätte die Stimme unter Hunderten erkannt, kraftvoll, aber ein wenig schrill. Es war die Stimme seines Gewissens, die ihn stets an all das erinnerte, was er vor sich herschob. Und sie gehörte Mataan. Mit einem Seufzer drehte sich Artax um. Mataan hatte sich den Winter über erholt. Dennoch war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Aus dem stattlichen Krieger war ein hagerer Mann geworden. Er hatte graue Strähnen im Bart, die Augen waren tief in dunkle Höhlen eingesunken. Scharfe Falten zerfurchten seine Stirn.