Der Krieger salutierte, stürmte die Treppe hinab und stieg auf sein Pferd.
»Was war denn mit den beiden?«
»Wer die Weiße Stadt besucht, der sollte sich angemessen kleiden. Ich dulde hier keine Vagabunden! Dies ist ein Ort der Vollkommenheit. Mir ist ein Rätsel, wie die überhaupt hierhergelangen konnten.« Plötzlich lächelte Ansur wieder. »Entschuldige. Manchmal verliere ich mich im Detail, werter Freund. Ich wollte dir von den Geheimnissen Selinunts erzählen. Ich hatte das Glück, Langarm, den Götterschmied, für meine Vision zu begeistern. Er hat mich beim Bau der Stadt beraten und auf vielerlei andere Art geholfen. Sieh hin, so schön dieses Tal ist, es hat auch einen verborgenen Makel. Manchmal erbebt der Fels.«
»Was?« Artax sah den Unsterblichen fassungslos an. Sofort hatte er die Bilder der zerstörten Goldenen Stadt wieder vor Augen. »Du hättest mir sagen müssen …«
»Keine Sorge, Bruder.« Ansur hob beschwichtigend die Hände. »Selinunt ist sicher, denn es gibt eine zweite, verborgene Stadt. Da das Wasser der Quellen hier in den Bergen bitter ist, nutzen wir das Aquädukt nur, um die Zierbrunnen zu speisen. Unser Trinkwasser sammeln wir in riesigen Zisternen. Die ganze Stadt ist darauf errichtet. Statt auf herkömmlichen Fundamenten stehen die Bauwerke hier auf mächtigen Säulen, die sich aus dem Wasser erheben. Sie sind sicher vor Erdbeben. Dir wird sicherlich aufgefallen sein, dass einige Viertel in der Goldenen Stadt weit weniger von der Katastrophe betroffen waren als andere. Auch sie waren über Zisternen errichtet.«
Artax wünschte sich, Ansur wäre in die Goldene Stadt gekommen, um von diesen Erfahrungen zu berichten. Fast ein halbes Jahr lief nun schon der Wiederaufbau. Dieses Wissen hätte vieles verändert. Er musste sich beherrschen, um sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. Er mochte diesen arroganten Burschen nicht.
»Folge mir, Aaron! Es war dein eigener Wunsch, dir die Überraschungen für morgen zu verderben. Du sollst die Halle der Helden sehen.«
Ein Weg führte in weiter Spirale zwischen den Säulen hindurch, bis sie in das Heiligtum gelangten, das den sieben Devanthar geweiht war. Sieben goldene Statuen standen auf hohen Sockeln entlang der Wände des runden Tempelbaus. In der Mitte öffnete sich eine breite Treppe. Ansur nahm eine Fackel von der Wand und eilte die Treppe hinab, ohne die Götterbilder eines Blickes zu würdigen.
Nach zwanzig Stufen mündete die Treppe in einen Tunnel, der sich, so wie schon der Säulengang oben, in weiten Spiralen wand. Ansur schritt so rasch aus, dass Artax kaum Gelegenheit fand, die kostbaren Fresken an den Wänden zu betrachten. Er wurde ein wenig langsamer. Sollte Ansur sich an die Gesetze der Gastfreundschaft erinnern! Eigentlich hätte sich der Herrscher von Selinunt die Zeit nehmen müssen, ihm alles in Ruhe zu zeigen. Aaron erkannte auf den Fresken zunächst Nangog und die Goldene Stadt am Hang des Weltenmundes, wenig später flogen Wolkensammler an einem herrlich blau gemalten Himmel. Es waren Bilder des Friedens und der Harmonie. Doch das änderte sich, je weiter sie dem Gang folgten. Nun waren die Devanthar abgebildet, begleitet von Männern mit silbernen Gesichtern, die alle gleich aussahen. Und dann kamen die Drachen. Sie füllten den Himmel wie ein Vogelschwarm, kämpften gegen eine ganze Flotte von Wolkensammlern. Nein …!
Artax blieb stehen, und nun endlich verlangsamte auch Ansur sein Tempo, kam zurück und leuchtete ihm mit der Fackel, damit er die Szene näher betrachten konnte. Artax hielt den Atem an – auf diesem Fresko bekämpften sich die Wolkensammler auch untereinander! Reiter auf geflügelten Pferden flogen zwischen Himmelsschiffen. Einer der Wolkensammler stand in hellen Flammen. Das Schiff, das er trug, war halb seinen Tentakeln entglitten. Hunderte Krieger und Wolkenschiffer stürzten in den Tod.
»Das ist die Vorstellung, die unsere Götter von der Zukunft haben«, sagte Ansur ernst. »Sie wollen, dass wir es jedes Mal sehen, wenn wir uns hier versammeln. Langarm ist überzeugt davon, dass die Daimonen nach Nangog kommen werden. Er wird uns die Waffen geben, um sie zu besiegen. Und wir sind die Ersten, die er beschenken wird. Komm!«
Nach wenigen Schritten mündete der Tunnel in einen weiten Kuppelsaal, der von einem großen, runden Tisch beherrscht wurde. Sieben Schwerter lagen mit der Spitze nach innen gerichtet darauf, angeordnet wie die Speichen eines Rades. Sieben wuchtige Stühle mit niedrigen Rückenlehnen standen um den Tisch. Und hinter jedem der Stühle verharrte ein Wächter. Völlig reglos.
Die Geschenke der Götter
»Erschrocken?« Diesmal klang Ansur nicht hochmütig, sondern erstaunlich einfühlend. »Mir ging es genauso, als ich zum ersten Mal hier war. Was du da siehst, sind unsere neuen Rüstungen. Und an dieser Tafel sollen wir von nun an zu jedem Opferfest versammelt sein. Sie ist rund, damit es keinen Streit gibt. Niemand hat hier einen hervorgehobenen Platz. Wir alle sind gleich. Aber nun sieh dir die Rüstungen an. Langarm selbst hat sie gefertigt.«
Zögerlich ging Artax zum nächsten Rüstungsständer. Alle Rüstungen waren – abgesehen von den Helmen – ganz in Weiß gehalten. Er betrachtete eine Brustplatte aus dickem Leder, in das ein Löwenkopf geprägt war, und musste schmunzeln. Wie es schien, hatte er auf Anhieb seine Rüstung gefunden. Der Brustpanzer bedeckte ein langärmliges Hemd, ähnlich dem, das er schon jetzt besaß. Doch was auf den ersten Blick wie dünnes Leder aussah, war eine Rüstung, die ihresgleichen suchte. Wurde das Leder getroffen, verhärtete es sich unter dem Aufprall der Waffe. Keine Klinge von Menschenhand vermochte es zu durchdringen. Als ihm der Löwenhäuptige damals die Rüstung brachte, hatte er ihm versprochen, dass auch die meisten Waffen der Daimonen nichts gegen diesen Panzer auszurichten vermochten.
Ein Rock, besetzt mit goldgefassten Lederstreifen, und eine Hose aus Leder, die in hohen Stiefeln verschwand, vervollständigten die Rüstung. Mit zwei goldenen Broschen, die Löwenköpfe zeigten, war ein langer, weißer Umhang an den Schulterstücken befestigt. Nur der Helm, der zur Rüstung gehörte, befremdete Artax. Es war ein Maskenhelm wie der Löwenhelm, den er jetzt besaß. Doch dieser hier zeigte ein Menschengesicht. Artax blickte in die Runde. Alle Helme waren ähnlich.
»Warum sehen sie alle gleich aus?«
»Liegt das nicht auf der Hand?«, fragte Ansur. »Die Götter wollen, dass es den Daimonen in der Schlacht schwerer fällt, einen von uns gezielt zu töten.«
»Und weshalb sind sie alle gleich groß? Ich schätze, Iwar wird es bei seiner Statur schwerhaben, sich in eine dieser Rüstungen zu zwängen.«
»Langarm hat sie mit einem Zauber belegt. Sie passen sich ihrem jeweiligen Träger an. Ich schätze, das ist eine Vorsichtsmaßnahme, falls einen von uns ein ähnliches Schicksal wie Muwatta ereilt. Die Rüstung kann einfach weiterverwendet werden, ganz gleich, was für ein Mann sie tragen wird.«
Artax gefiel dieses Konzept nicht. Es unterstrich noch einmal, dass jeder von ihnen beliebig austauschbar war. Er ging um den Tisch und sah sich jede einzelne Rüstung an. Sie unterschieden sich tatsächlich nur in der Schmuckprägung auf der Brustplatte. Der Adler Valesias, der Bär Drusnas. Die dritte Rüstung zeigte einen Eberkopf.
Ansur hinter ihm lachte. »So sehen die Scherze von Göttern aus. Diese Rüstung ist für unseren Freund aus Zapote. Für dieses Volk sind Schweine unreine Tiere. Ich schätze, Langarm mag seinen Bruder, die Gefiederte Schlange, nicht sonderlich.«
»Dir ist schon klar, was geschehen wird?« Fassungslos betrachtete er den Eberkopf. Es würde ohnehin schon schwer genug werden, die Unsterblichen in dieselbe Richtung zu führen. Sie waren Herrscher und daher nicht gewohnt, sich anderen zu fügen. Ganz abgesehen von den alten Fehden, die es unter ihnen gab.
Ansur winkte ab. »Er muss sie nur anziehen, dann erscheint diese widerliche Schlange auf dem Brustpanzer.«
»Aber das wird er nicht tun! Er wird die Rüstung nicht einmal berühren.«