Der Kopf des Löwenhäuptigen ragte noch immer zwischen Trümmern und Geröll hervor. Die geborstenen Balken der Gerüste, auf denen die Steinmetze gearbeitet hatten, waren fortgeräumt, die Verletzten und Toten längst davongetragen, Staub und Blut vom Pflaster gewaschen. Doch um den riesigen Kopf zu bewegen, würde man einen Kran errichten müssen. Und was war mit dem Kopf eines Devanthar zu tun? Man konnte ihn nicht wieder auf die zerstörte Statue setzen. Dazu war der Schaden zu groß. Aber man konnte ihn auch nicht einfach in Teile zerschlagen.
Barnaba blickte zu den riesigen Wolkensammlern mit ihren aufgedunsenen Leibern empor, unter denen Palastschiffe und bauchige Kauffahrer festgebunden waren. Dutzende dieser Kreaturen schwebten über der Stadt am Hang, festgeklammert an den himmelragenden Ankertürmen. Sie bewegten sich sacht im sanften Abendwind, der von den weiten Reisfeldern am Fluss zum Hang hinaufwehte. Die Brise trug das unablässige Klappern und Rauschen der Wasserräder heran, die das kostbare Nass zu den Palästen auf den höchstgelegenen Terrassen am Kraterrand emporhoben. Von irgendeinem der Dächer der Lagerhäuser, die den weiten Platz umstanden, erklang leises, wehmütiges Flötenspiel.
Barnaba streifte seine Sandalen ab, um der Bettlerin lautlos zu folgen, die von Schatten zu Schatten hinkte. Dabei schlug die flache Schale, die an ihrem Stab hing, bei jedem Schritt klappernd gegen das knotige Holz. Genau wie sie drückte er sich an Mauern entlang und achtete darauf, sich nicht in die schutzlose Weite des Platzes zu begeben, wo er für jeden weiteren heimlichen Beobachter leicht zu entdecken gewesen wäre.
Nach kurzer Zeit erreichte der gefallene Priester den Ort, an dem die Bettlerin das erste Mal innegehalten hatte. Ein unförmiger Fleck war mit blassgrüner Farbe auf eine schmutzige Ziegelmauer gemalt worden. Barnaba lächelte. Es war genau so, wie er es sich vorgestellt hatte. Die Götzenanbeter, die sich den Grünen Geistern Nangogs verschrieben hatten, wollten ihren Nutzen aus dem Unglück des vergangenen Tages ziehen. Für sie war das, was geschehen war, ein Zeichen ihrer neuen Götter. Ein Aufbäumen gegen die gedankenlose Gier der Menschen, die als Plünderer in diese Welt gekommen waren und sich blind für ihre Wunder zeigten.
Die Gestalt hatte inzwischen fast das gewaltige Portal erreicht, hinter dessen Tor sich die Goldenen Pfade verbargen. Sie wagte nicht, ihr Kreidezeichen dort anzubringen, doch beschmierte sie eines der Beine des geköpften Löwenhäuptigen. Der Priester hielt den Atem an. Er hatte dem Gott schon gegenübergestanden. Er hätte nicht den Mut, ihn auf solche Weise herauszufordern. Dass eine Statue den Kopf verloren hatte, sagte gar nichts über die Macht oder Ohnmacht der Devanthar aus. Wer darin ein Zeichen sah, war naiv.
Barnaba wartete im Schatten, bis die Bettlerin ihr Werk vollendet hatte. Morgen würde es neue Geschichten über die Grünen Geister und ihre Götter geben und über die Schwäche der Devanthar, die nicht zu verhindern vermochten, dass selbst ihre Statuen beschmiert wurden. Er lauschte auf das leise Flötenspiel. Als ein fernes Keifen kurz darauf die unheimliche Stille über dem Platz störte, eilte die Bettlerin auf die Sonnenallee zu. Jetzt bewegte sie sich mit kräftigen, ausgreifenden Schritten, und nun hielt sie die Bettlerschale fest. Kein Klappern begleitete sie mehr. Auch das Flötenspiel war verstummt. Die nimmermüde Stadt schien den Atem anzuhalten.
Der Priester sprang auf, um ihr nachzusetzen, bevor sie in der Dunkelheit verschwand. Er erreichte die breite Allee gerade noch rechtzeitig, um sie in eine der schmalen Gassen abbiegen zu sehen, die von der Prachtstraße abzweigten. Sein Herz schlug schmerzhaft gegen seine geprellten Rippen. Jeder Knochen in seinem Leib ächzte. Die Bettlerin war ganz sicher kein Krüppel, so wie sie sich jetzt bewegte. Ganz im Gegensatz zu ihm. Hatte sie ihn bemerkt? Oder war es nur Vorsicht, sich so eilig davonzumachen?
In seinen Ohren dröhnte das Summen von Fliegen. Branaba wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht und wurde sich fast sofort bewusst, dass da nichts war. Er musste das in den Griff bekommen! Und er durfte nicht so leicht aufgeben! So schnell seine geschundenen Knochen es zuließen, strebte er der Gasse entgegen, in die die Bettlerin verschwunden war. Schon nach wenigen Schritten mündete sie in eine steile Treppe, die zu tiefer gelegenen Terrassen der Stadt führte. Barnaba seufzte. Dies war die Stadt der Treppen. Sie war an einem steilen Hang erbaut. Nur Wege, die parallel zu diesem Hang verliefen, waren eben, für alle anderen benötigte man kräftige Beine.
Argwöhnisch spähte der Priester ins Dunkel. Kein Mondlicht fiel in den finsteren Spalt zwischen den Häusern. Vorsichtig, sich Schritt um Schritt vorwärtstastend, stieg Barnaba die Treppe hinab. Wäscheleinen spannten sich wie ein riesiges Spinnennetz zwischen den dunklen Häuserwänden. Es troff feucht auf ihn hinab. Der Gestank von Urin, billiger Kohlsuppe und ranzigem Öl hatte sich in das Mauerwerk eingenistet. Der Geruch der Armut und Hoffnungslosigkeit. Der Geruch einer Welt, die Träume fraß, dachte Barnaba bitter. Nicht einmal für jeden zehnten Mann hier gab es eine Frau. Kaum ein Weib kam freiwillig nach Nangog, außer Huren vielleicht. Die Frauen blieben hier unfruchtbar. Warum es so war, gehörte zu den Mysterien dieser fremden, geheimnisvollen Welt.
Barnaba erreichte einen Abzweig, an dem eine noch engere Stiege nach links in die Dunkelheit führte. Hier, am Scheideweg, war das Netzwerk aus Wäscheleinen lichter, und ein wenig vom Schein der Zwillingsmonde erreichte die schmutzigen Treppenstufen.
Der Priester entdeckte an zwei Hauswänden das grüne Geschmiere der Götzenanbeter. Es war allgegenwärtig in der Stadt. Wie viele Bewohner wohl heimlich den Geistern Nangogs huldigten? Als er schließlich den Abdruck eines nackten Fußes im Schutz des Bodens sah, wusste er, dass die Bettlerin die enge Stiege gewählt hatte, die weiter hinab in die dunklen Eingeweide der Stadt führte. Mit zuversichtlichem Lächeln folgte er dem Weg, der so eng war, dass seine Arme die Hauswände streiften, und war schon bald wieder ganz und gar von Finsternis umfangen.
Plötzlich griff eine Hand nach ihm. Er wurde in einen Hauseingang gezerrt und gegen die Wand gedrückt. Etwas Kühles, Schartiges presste sich an seine Kehle. »Du glaubst, du kannst uns nachschnüffeln?«
»Ganz im Gegenteil«, entgegnete Barnaba, bemüht, sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. »Ich bin froh, gefunden worden zu sein.«
»Was ist das für ein närrisches Geschwätz?« Der Druck der Klinge an Barnabas Kehle verstärkte sich.
»Ich bin auf der Suche nach euch, um mich euch anzuschließen.«
»Um dich uns anzuschließen?«, flüsterte die Stimme spöttisch. »Du meinst wohl, um dein Leben zu vergolden, wenn du uns verrätst. Doch du wirst als Hundefraß in der Gosse enden, wie all die anderen Spitzel, die sie uns geschickt haben.« Der Druck der Klinge wurde erneut stärker, und Barnaba spürte warmes Blut seine Kehle hinabrinnen.
»Ich bin Barnaba von Nari«, stieß er keuchend hervor. »Vertrauter des ermordeten Hohepriesters Abir Ataš, der meistgesuchte Mann des Königreichs Aram. Ich …«
»Lass ihn los, Artiknos«, erklang eine Frauenstimme hinter ihnen.
»Du glaubst ihm doch nicht etwa, Za…«
»Nenn meinen Namen nicht! Los, wir bringen ihn zum Stein der Göttin. Dort gibt es keine Geheimnisse. Soll die Erste Mutter über ihn entscheiden.«
Die Klinge wurde von Barnabas Kehle zurückgezogen. Der Priester atmete auf und griff nach dem Schnitt an der Kehle. Die Wunde war nicht tief. »Ich danke euch, meine Dame. Ich verspreche …« Ein Hieb traf ihn dicht hinter dem Ohr, und alles wurde schwarz.
Verwandte Seelen
Ein Schwall kaltes Wasser riss ihn aus der Bewusstlosigkeit. Über Barnaba stand ein riesiger, stämmiger Mann, der eine leere Wasserschale in Händen hielt. Er trug eine schmutzige Tunika mit einem breiten Ledergürtel, in dem eine silberne Flöte und ein Messer steckten. Sein Messer! Der Mistkerl hatte das Messer gestohlen, das eines Tages Aarons Herz durchbohren sollte.