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Endlich sah er das Zelt. Es war mehr als doppelt so groß wie sein eigenes. Das passte zu Ansur. Sicher gehörte dieses protzige Zelt dem Unsterblichen von Valesia. Der Hurenbock ließ keine Gelegenheit aus, ihn bloßzustellen. Er deutete auf den fast fünf Schritt hohen, geflügelten Marmorlöwen, der sich neben dem Zelt erhob und gemeinsam mit einem ebenso großen Zwilling den Beginn des Passweges markierte. »Das da ist ganz und gar valesisch. Zu groß! Angeberisch! Und dann hat das Vieh auch noch Flügel!« Er sprach so laut, dass man ihn sicherlich im Zelt hören konnte. Aber das war ihm egal. »Eine Löwe mit Flügeln! Lächerlich. Sieht genauso eindrucksvoll aus wie ein Schwein mit Flügeln!«

Als Iwar in das Zelt trat, herrschte Stille. Alle sahen ihn an.

»Gut, dass du endlich kommst«, begrüßte ihn Aaron kühl, und Iwar dämmerte, dass die unterwürfige Einladung nie ausgesprochen worden war. Volodi hatte ihn angelogen, um ihn hierherzulocken. Er warf seinem Hauptmann einen finsteren Blick zu.

»Wie ich schon sagte«, fuhr Aaron fort, »bin ich mir ganz sicher, heute eine Daimonin, die mir bereits einmal auf Nangog begegnet ist, auf den Straßen von Selinunt gesehen zu haben. Das heißt, sie wissen von unserer Zusammenkunft! Das ist nur möglich, wenn noch immer Spitzel unter uns weilen und …«

Iwar ließ den Blick durch das Zelt schweifen. Neben den Unsterblichen waren auch einige Devanthar anwesend. Ihre Gegenwart hatte immer etwas Beunruhigendes, und er war froh, dass er nahe beim Ausgang stand.

Am liebsten hätte er sich gesetzt. Er fühlte sich schwach und ein wenig unpässlich. Etwas Warmes lief ihm über die Wange. Wie Tränen … Er tastete danach und blickte auf seine Hand. Da war Blut an seinen Fingerspitzen!

Iwar schloss kurz die Augen. Das konnte nicht sein! Aber er spürte, wie es aus seinen Augen tropfte. Und aus seiner Nase. Es perlte durch seinen Bart auf die Lippen.

Niemand im Zelt beachtete ihn. Sie alle sahen Aaron an, der immer noch sprach. Es schien wichtig zu sein. Er konnte den Worten des Unsterblichen nicht mehr folgen. Sein Kopfschmerz ließ nach. Vielleicht half das Nasenbluten.

Iwars Knie waren ganz weich. Er sackte nach vorn, schlug aber nicht auf dem Boden auf. Deutlich sah er vor sich zwei Blutstropfen in der Luft hängen. Nichts bewegte sich mehr. Alle Geräusche waren verstummt.

Ich kann den Lauf der Zeit verändern, Iwar, erklang eine Stimme, die er lange nicht mehr gehört hatte, in seinem Kopf. Der Große Bär! Ich habe den winzigen Augenblick, bis die Blutstropfen den Boden berühren, gedehnt, damit ich noch ein wenig mit dir reden kann. Du hast mich enttäuscht, Iwar. Aber so wie der liebende Vater die Hoffnung auf seinen Sohn nicht aufgibt, vermochte auch ich dir nichts anzutun. Ich konnte dich sogar verstehen. Es war niederschmetternd, all diese Schlachten zu sehen, in denen Mut nichts mehr zählte. Zu sehen, wie unsere Krieger dahingeschlachtet werden und Krieg zu einer Aufgabe am Rechenschieber wurde. Ich konnte verstehen, dass du angefangen hast zu trinken. Und du musstest Frieden schließen, denn Drusna hatte zu viele seiner Söhne verloren. Du wolltest das Beste für dein Land. So sollte ein Unsterblicher denken.

Iwar wollte etwas dazu sagen. Er wusste, was er alles falsch gemacht hatte. Und er wusste auch, dass der Große Bär ihn selbst jetzt noch retten könnte. Doch seine Lippen wollten sich nicht bewegen. Es war, als seien sie festgefroren. Nur sein Verstand arbeitete noch. Ganz deutlich hörte er die Stimme des Devanthars.

Ich war in deinem Zimmer, als du den Pakt mit Arcumenna geschlossen hast. Selbst da habe ich nicht aufgehört zu hoffen. Ich hatte gedacht, der Umgang mit Volodi würde dich verändern, würde dir neuen Mut machen und dir zeigen, dass noch nicht alles verloren ist. Ihr beide gemeinsam hättet die Valesier aus dem Land treiben können. Sogar heute Nachmittag noch habe ich gehofft … Ich dachte, du würdest das Gift nicht benutzen. Dann hoffte ich, du würdest Volodis Pokal im letzten Augenblick umstürzen. Ich war der kalte Luftzug, den du gespürt hast. So wie jetzt, bin ich auch aus der Zeit getreten, als du ihn vergiften wolltest. Ich habe die Becher vertauscht. Volodi ist Drusnas größte Hoffnung. Er durfte nicht sterben. Er hätte auch dich wieder einen Helden sein lassen. Er hätte den Mann wiedererweckt, der du früher einmal warst, Iwar. Aber du hast dich anders entschieden.

Iwar schlug mit dem Gesicht voran auf den hölzernen Boden des Zeltes. Er spürte keinen Schmerz. Jetzt hörte er Rufe. Die übrigen Unsterblichen waren auf ihn aufmerksam geworden. Jemand packte ihn bei der Schulter und drehte ihn herum. Volodi!

Er sah hinauf. Sah seinen entsetzten Blick …

Blut füllte Iwars Augen, und die Welt verschwand hinter einem roten Schleier.

Von der Vernunft

Volodi kniete neben dem Unsterblichen und wusste nicht, was er tun sollte. Iwar blutete aus den Augen. So wie der Unsterbliche Aaron auf der Pyramide der Zapote. Das Weiß der Augen war ganz rot geworden. Jetzt tropfte Iwar auch Blut aus den Mundwinkeln.

»Er ist vergiftet worden.« Eine mächtige Bassstimme füllte das Zelt. Wie aus dem Nichts war der Große Bär erschienen, der Devanthar Drusnas.

Volodi sah zu der riesigen Tiergestalt auf. Der Bär stand auf seinen Hinterbeinen und war so nah, dass er ihm mit einem Tatzenhieb den Kopf von den Schultern hätte reißen können. Und das würde er auch ganz gewiss bald tun, dachte Volodi. Er war der Hauptmann der Leibwache des Unsterblichen. Er hätte das verhindern müssen!

»Hier in diesem Zelt steht der Mann, der das Gift zu Iwar trug. Und neben ihm steht der Unsterbliche, der ihn damit beauftragte.«

Totenstille herrschte im Zelt. Die Herrscher Daias und die wenigen Auserwählten, die sie begleitet hatten, sahen einander misstrauisch an. Volodi hatte keinen Zweifel, wer die Mörder waren. Aber ebenso wenig hatte er Beweise. Er musste sich damit begnügen, anklagend in Ansurs Richtung zu sehen.

»Ich werde keine Fehde mit Iwars Mördern beginnen, doch sollen die beiden nicht glauben, dass ich ihnen vergeben hätte.« Jetzt sah auch der Große Bär zu Ansur und Arcumenna. »Es ist die Vernunft, die mich zwingt, auf das zu verzichten, was mein Herz mir gebietet. Der Unsterbliche Aaron hat recht. In dieser Stunde müssen wir zusammenstehen, denn wir alle wurden auf Nangog angegriffen, und dass eine Daimonin in Selinunt gesehen wurde, kann nur bedeuten, dass für unsere Feinde der Krieg noch nicht vorüber ist.«

Volodi hörte ihnen nicht mehr zu. Das alles ging ihn nichts mehr an. Er war nur deshalb an den Hof des Unsterblichen gekommen, weil es ein guter Platz zum Überwintern gewesen war. Obwohl er Iwar nie gemocht hatte, war er traurig über das Ende seines Herrschers. Er hatte es nicht verdient, auf diese Art zu sterben. Sein Tod war so bedeutungslos, dass es nicht einmal eine Fehde geben würde. Selbst der kleinste Fürst Drusnas durfte darauf rechnen, dass er von seiner Familie gerächt wurde, wenn er auf diese Art verreckte. Iwar hatte keine Familie. Die Kinder, die seine Geliebten gebaren, hatte er eigenhändig umgebracht. Er hatte es ganz gewiss verdient, ein schlimmes Ende zu nehmen …

Volodi drückte dem Herrscher die Augenlider zu und tupfte ihm mit dessen Umhang das Blut vom Gesicht. Dann deckte er ihn mit dem Umhang zu und blickte auf. Sie redeten noch immer. Keiner achtete mehr auf Iwar.

Das war nicht in Ordnung! Iwar war ein Mistkerl gewesen, und Volodi hatte es gehasst, ihm dienen zu müssen. Aber er hatte ihm als Hauptmann der Leibwache die Treue geschworen. Das wog schwerer als Sympathie. Es wäre seine Aufgabe gewesen, dies hier zu verhindern. Darin hatte er versagt. Aber er konnte ihn zumindest rächen. Er blickte zu Ansur auf. Der Unsterbliche trug nicht die Rüstung, die die Götter ihm geschenkt hatten. Volodi dachte an das Ende Muwattas. Unsterblich waren sie keineswegs, diese großen Herrscher. Sie waren keine Götter. Alles, was man brauchte, waren ein gutes Schwert und Entschlossenheit. An beidem mangelte es ihm nicht.