Shaya atmete scharf ein. Für dieses Ohr mochte es viele Erklärungen geben. Sie dachte an die Daimonen, gegen die sie einst in den Wäldern Nangogs gekämpft hatte. Ein bisschen sah er ihnen schon ähnlich, ohne Bart und so schlank. Dann schüttelte sie entschieden den Kopf. Seine Behauptungen waren absurd! »Aaron würde niemals einen Daimon schicken, um mich zu retten.«
»Das stimmt, meine Dame. Ich habe ihm viele Jahre treu gedient, und doch hat er nie erfahren, wer ich wirklich bin. Ich war sein Hofmeister Datames.«
Das wurde ja immer verrückter! Sie glaubte ihm kein Wort. Diese Geschichte ergab keinerlei Sinn. Die Daimonen waren Feinde der Menschen, der Hofmeister Datames aber hatte Aaron gute Dienste geleistet.
»Ich sehe schon, ich muss überzeugendere Argumente ins Feld führen, meine Dame. Bitte achtet auf meine Nase. Sie erschien mir immer schon ein wenig zu spitz und zu lang.« Er hob die Hände vor sein Gesicht, murmelte etwas, das Shaya nicht verstand, und schien dabei seine Nase zu massieren. Als er die Hände wieder senkte, glaubte sie ihm. Seine Nase war nun kleiner und gedrungener, fast wie ihre eigene Nase.
»Das ist …« Sie streckte die Hand vor und wagte dann doch nicht, ihn zu berühren.
»Das ist die Lösung aller Probleme, Prinzessin, denn heute wird sich die, die ihr seid, einfach in Luft auflösen. Prinzessin Shaya wird für immer aus dieser Welt verschwinden.«
»Du wirst mein Gesicht verändern?« Misstrauisch sah sie den Daimon an. Hatte ihn vielleicht Išta geschickt? War dies eine Falle? Aber welche Falle machte am Abend vor ihrem Tod noch einen Sinn?
»Ihr könnt mir vertrauen, Prinzessin.«
Seine Stimme klang so warm und freundlich, dass sie geneigt war zuzusagen. Doch gehörte das nicht auch zu den Ränkespielen der Daimonen? Sie waren Meister der Intrige. Und sie gaben nichts, ohne einen dunklen Preis zu fordern. »Was verlangst du von mir, wenn du mein Gesicht veränderst und mich rettest? Muss ich dir dafür meine Seele verpfänden?«
Einige Herzschläge lang sah er sie fassungslos an. Dann begann er plötzlich, leise zu lachen. »Ja, ich kenne die Geschichten, die ihr Menschenkinder über uns erzählt. Sehe ich wirklich aus wie ein Abgesandter der Mächte der Finsternis?«
Shaya musterte ihn mit ausdrucksloser Miene. Natürlich sah er nicht so aus … Aber war er nicht gerade deshalb verdächtig? Daimonen waren die großen Täuscher. Sie waren nie das, was sie vorgaben zu sein. Er wirkte harmlos und freundlich. Nein … Ihr Blick wanderte zu seinem Schwert. Ganz harmlos sah er nicht aus.
»Ihr müsst Euch entscheiden, Prinzessin Shaya. Was habt Ihr zu verlieren? Bleibt Ihr, werdet Ihr sterben. Kommt Ihr mit mir, werdet Ihr ein neues Leben beginnen.« Er lächelte erneut. »Und ich verspreche Euch noch einmal, ich werde nicht Eure Seele rauben.«
Sollte sie ihn verärgert haben, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Seit fast einem Jahr hatten Götter und Unsterbliche ihr Leben gelenkt. Sie war nicht mehr Herrin ihrer Entscheidungen gewesen, und jedes Mal, wenn sie sich gefügt hatte, war sie ein Stück tiefer ins Unglück gestoßen worden. Vielleicht war sie ja ein ganzes Leben lang angelogen worden? Vielleicht waren die Devanthar das Dunkel und die Daimonen das Licht. Und was hatte sie noch zu verlieren? Sie würde morgen sterben …
Zögerlich nickte sie. »Ich danke dir für dein Angebot. Ich werde mit dir gehen. Bitte verändere mein Gesicht.« Sie sah ihm seine Erleichterung an. Da war keine Verschlagenheit in seinem Antlitz. Er wollte ihr wirklich helfen.
»Ihr habt die richtige Wahl getroffen, Herrin. Lasst uns beginnen. Ihr solltet auch eine andere Haarfarbe wählen. Das allein wird Eure Erscheinung schon erheblich verändern. Lasst uns beginnen! Sagt mir, wie wollt Ihr aussehen?«
»Eine größere Nase wäre schön«, entgegnete sie noch ein wenig zögerlich, doch ihr Herz hatte wie wild zu schlagen begonnen. Sie hatte mit ihrem Leben abgeschlossen gehabt, und jetzt würde sie doch noch dem Tod entfliehen! »Größere, rundere Augen wie die Frauen im Westen hätte ich auch gerne«, sagte sie kokett »Und meine Wangenknochen …«
»Ich muss Euch warnen, Prinzessin, diese Veränderungen bereiten Schmerzen. Wir sollten mit Bedacht vorgehen. Zu viel Veränderung ist weder notwendig noch gut.«
»Warum?«, fragte sie enttäuscht und dachte, dass sie gerne auch ein wenig größer wäre. Nicht viel. Nur ein oder zwei Zoll. Ihre Beine waren zu kurz und krumm, weil sie zu viel im Sattel gesessen hatte.
»Euch umgibt eine Aura, die magische Geschöpfe, wie etwa die Devanthar, sehen können. Jeder Zauber, den ich wirke, hinterlässt eine Spur. Jedenfalls für eine Zeit, bis Euer verändertes Aussehen Euch zur neuen Natur geworden ist. In zwei oder drei Monden vermögen nicht einmal Eure Götter noch zu erkennen, wer Ihr einmal wart.«
Shaya zögerte, dann entschied sie sich, auf ihn zu hören. Er wusste es mit Sicherheit besser als sie. Ihre Haarfarbe zu verändern verursachte nur ein leichtes Prickeln in ihrer Kopfhaut. Ganz anders war es mit der Nase. Es fühlte sich an, als würde sie gebrochen. Sie kämpfte gegen den Schmerz an, konnte aber nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen traten. Als auch noch ihre Augen verändert waren, verzichtete sie freiwillig auf weitere Zauber. Sie wünschte, es gäbe einen Spiegel. Zu gerne hätte sie ihr neues Gesicht gesehen.
»Ihr seid immer noch sehr hübsch«, sagte der Daimon, als könne er in ihren Gedanken lesen. Er war sehr einfühlsam und zuvorkommend. Einem Mann wie ihm war sie noch nie begegnet. Er hatte fast schon etwas Weibisches. Jetzt kniete er auch noch vor ihr nieder!
Wieder murmelte er vor sich hin, und ihre Fußfessel sprang auf. Vorsichtig verband er die Schürfwunden an ihrem Knöchel, dann blickte er lächelnd auf. »Jetzt müsst Ihr nur noch andere Kleider anlegen, Prinzessin, und Ihr könnt diesem Gefängnis entfliehen.«
»Und was ist mit dir?«
»Ich warte hier auf Eure Mörder, Prinzessin. Und wenn sie kommen, Euch zu holen, dann werde ich mit ihnen einen Tanz veranstalten, den sie so schnell nicht vergessen werden. Bluttaten und Zauberwerk werden sie überzeugen, dass ein leibhaftiger Daimon hier war, Euch verschlungen hat und danach noch Appetit auf weiteres Menschenfleisch hatte.«
»Du erzählst ihnen, du hättest mich verschlungen?«
»Nicht so freundlich, wie ich es Euch gerade gesagt habe, Prinzessin. Glaubt mir, ich kann sehr überzeugend sein. Und wir brauchen eine Erklärung, was aus Euch geworden ist. Sucht Euch einen sicheren Unterschlupf irgendwo hoch in den Felsen und seht zu, wie ich mich vom Kloster verabschiede.« Seine Stimme war leise geworden. Melancholisch. »Wir treffen uns dann bei meinem Versteck in den Bergen.«
Er beschrieb ihr den Weg zu der Schäferhütte, in der er die letzten Wochen gelebt hatte. Dort sollte sie Zuflucht suchen und auf ihn warten. Als Shaya die Kleider anzog, die er für sie mitgebracht hatte, wandte er sich höflich ab. Zuletzt drückte er ihr sein Schwert in die Hand. »Nehmt dies, Prinzessin. Ich weiß, Ihr könnt gut damit umgehen. Es ist eine schöne Bronzeklinge. Nichts Besonderes, aber zuverlässig. Sobald Ihr in belebtere Gegenden kommt, solltet Ihr sie gegen einen Dolch tauschen. Eine Frau mit einem Schwert erregt zu viel Aufsehen.«
»Aber wie wirst du ohne Waffe kämpfen? Labarna hat einige Männer seiner Leibwache geschickt, um meine Opferung zu überwachen. Das sind erfahrene Krieger!«
»Und ich bin ein Daimon«, sagte er entschieden, und seine Augen wurden hart. »Glaubt Ihr wirklich, eine Handvoll Menschenkinder könnte mich aufhalten.«
In diesem Augenblick wirkte er ganz und gar nicht mehr weibisch, und sie war froh, dass er ihr nicht feindlich gesonnen war. Sie dachte an die Kristallhöhle in den Wäldern Nangogs, wo sie gegen die Daimonen gekämpft hatte. Er hatte recht, er würde kein Schwert brauchen, um die Männer Labarnas zu bezwingen.