»Ich werde auf einem anderen Weg aus dem Tal fliehen als Ihr, Prinzessin. Unsere Verfolger dürfen uns nie zusammen sehen. Deshalb treffen wir uns erst bei der Schäferhütte.« Er drückte ihr die Hand. »Es war mir eine Ehre, Euch kennengelernt zu haben. Ihr seid wahrlich eine Prinzessin unter den Menschentöchtern.«
Obwohl er ihr geholfen hatte, war sie froh, seiner Gesellschaft zu entkommen. Er war ihr erneut unheimlich geworden, als sie für einen Herzschlag die Härte hinter seiner weibisch höflichen Art hatte aufblitzen sehen. Er hatte ihr geholfen, aber er blieb ein Daimon. Sie sollte ihm nicht zu sehr vertrauen. Sie verneigte sich knapp.
»Ich danke dir«, sagte sie kurz angebunden, dann stieg sie mit klopfendem Herzen aus dem Fenster hinaus in eine sternklare Nacht. Von Norden wehte ein eisiger Wind ins Tal. All ihre Sinne waren geschärft wie zuletzt bei ihrer Flucht, die sie abgebrochen hatte. Sie musste nicht mehr fürchten, Aaron zu schaden. Die Prinzessin Shaya hatte aufgehört zu existieren. Sie war in ein neues Leben geboren worden.
Der Verrat
Nandalee lauschte auf die Geräusche der Nacht. Sie hatte fast keinen Schlaf gefunden. Es regnete. Leises Tröpfeln auf Stein und Blätter und der Wind, der ab und an in den Felsen heulte, waren die einzigen Laute, die sie vernahm.
Gonvalon lag reglos an sie geschmiegt. Sein Atem ging ruhig. Konnte er schlafen? Nandalee verfluchte sich immer noch dafür, dass sie in der Stadt nicht vorsichtiger gewesen waren. Sie hatten dorthin gemusst! Es war ihre Mission herauszufinden, wo sich Menschen und Götter versammeln würden. Ein seltsamer Auftrag … Sie würden Tage brauchen, um nach Albenmark zurückzukehren. Was nutzte dieses Wissen im Nachhinein? Vielleicht sollten zukünftige Versammlungen angegriffen werden.
War da ein Geräusch? Sie hielt den Atem an. Nein, nichts. Nur Wind und Regen. Den Reitern, die sie anfangs verfolgt hatten, waren sie leicht entkommen. Doch in der Abenddämmerung, als sie in die Berge oberhalb der Stadt zurückgekehrt waren, waren andere Kreaturen gekommen. Die Devanthar selbst hatten nach ihnen gesucht! Sie hatten in einer Felsspalte hinter dichtem Gebüsch Zuflucht gefunden. Ein Versteck, das im Dunkeln eigentlich unauffindbar war. Es sei denn, jemand besaß das Verborgene Auge. Nandalee war sich nur zu bewusst gewesen, wie verräterisch ihre Aura war. Sie war magiebegabt. Ihre Aura unterschied sich grundlegend von der aller anderen Kreaturen in weitem Umkreis. Deshalb hatte Gonvalon ihr befohlen, so tief wie möglich in die Spalte zu kriechen und sich dann schützend vor sie gelegt, sodass seine Aura die ihre überlagerte.
Jetzt war alles ruhig. Ein oder zwei Stunden noch, dann wurde es hell. Sicher würden die Devanthar sich dann ganz dem Schutz der Stadt widmen und nicht länger in den Bergen auf die Jagd gehen.
Sie spürte, wie Gonvalon sich regte. Er löste sich aus ihrer Umarmung, drehte sich zu ihr um und küsste sie. Im schwachen Licht konnte sie ihn kaum erkennen. Sein Gesicht war eine Fläche aus Schatten. Zärtlich strich seine Rechte über ihren Nacken. »Was immer auch geschieht, ich liebe dich«, flüsterte er und drückte im selben Augenblick auf einen Punkt in ihrem Nacken. Ein heißer Schmerz brannte bis in ihre Zehenspitzen. Was hatte er …? Sie wusste, was er getan hatte, auch wenn sie es nicht glauben wollte.
Ailyn, die Meisterin im waffenlosen Kampf, die sie an ihrem ersten Tag in der Weißen Halle so unbarmherzig mit einem Holzschwert verprügelt hatte, lehrte dieses Geheimnis. Aber nicht an Schüler. Nur wenige, auserwählte Meister wussten um die Nervenpunkte, bei denen ein leichter Druck genügte, um unerträglichen Schmerz oder Lähmung zu verursachen.
»Es tut mir leid, Nandalee. Ich weiß, dass du dies als Verrat empfinden musst. Aber bald schon wirst du wissen, dass diese Tat aus Liebe geboren wurde. Dieses Tagwerk heute muss ich allein verrichten. Ich habe Sorge, dass die Himmelsschlangen uns verraten haben. Nach allem, was ich mit dem Goldenen erlebt habe, vertraue ich ihnen nicht mehr. Wenn ich irre, bin ich vor Sonnenuntergang wieder zurück und stelle mich deinem Zorn. Und wenn nicht …« Er stockte. Rang um Worte. »Und wenn ich nicht zurückkomme, dann war es besser so.«
Sie spürte seine Verzweiflung. Sie war nicht wütend. Sie wollte ihn zurückhalten, denn er würde eine Dummheit begehen!
»Hab keine Sorge um mich. Durch die Tat Matha Nahts bin ich kein magisches Geschöpf mehr. Dieses eine Mal wird es mein Vorteil sein. Die Devanthar können mich im Gegensatz zu dir nicht erkennen, wenn sie ihr Verborgenes Auge öffnen.« Er klang ganz so, als wolle er sich mit diesen Worten selbst Mut machen.
Gonvalon kroch aus ihrem Versteck, suchte am Berghang einige kopfgroße Bruchsteine und schichtete sie vor Nandalee auf, um ihre Deckung hinter dem Busch zu verbessern. Noch einmal kam er zu ihr zurück und küsste sie. Dann ging er im letzten Sternenlicht davon.
Shayas Tod
Irgendetwas musste schiefgegangen sein. Seit Stunden lag Shaya nun schon versteckt zwischen den Felsen und beobachtete das Tal. Es war überdeutlich, dass dies kein Tag wie jeder andere im Haus des Himmels war. Alle Priesterinnen hatte ihre orangegelbe Festtracht angelegt. Eine Farbe, die aussah, als wollten sie mit Gewalt den noch fernen Sommer heraufbeschwören.
Shaya blickte zu dem Scheiterhaufen, der nahe einem Altar aus schlichtem, grauem Stein errichtet worden war. Den Morgen über hatten die Priesterinnen die Bäume und Büsche im Garten mit bunten Seidenbändern geschmückt. Dreimal waren sie in langer Reihe betend rund um das Kloster gezogen und hatten dabei lange Räucherstäbe abgebrannt, um die Geister des Winters zu vertreiben. Plötzlich ertönte ein so lauter Gongschlag, dass er selbst hoch in den Felsen noch deutlich zu hören war. Shaya wusste von Kara, dass er den Beginn der Zeremonie einleitete. Wie konnten sie anfangen? Sie hätten doch längst den Daimon in ihrem Zimmer entdecken müssen! Was war da vorgefallen? Diese Zeremonie konnte nicht stattfinden!
Unter dem Tor des Tempels erschien eine Prozession, angeführt von Kara, der Mutter der Mütter. Ihr folgten die Krieger Labarnas in Bronzerüstungen, auf denen sich hell die Sonne spiegelte. Leuchtend rote Federn wippten von ihren Helmen. Sie waren mit Speeren bewaffnet und trugen große Schilde aus Kuhhaut. Zwischen ihnen, ein wenig verloren wirkend und einen Kopf kleiner als ihre Wächter, ging eine weiß gewandete Frau. Shaya stockte der Atem. Dort unten ging sie! Der Daimon hatte ihre Gestalt angenommen!
Er hatte sie belogen! Von Anfang an musste es sein Plan gewesen sein, an ihrer Stelle zum Opferplatz zu gehen. »Prinzessin Shaya wird für immer aus dieser Welt verschwinden«, hatte er ihr gesagt. Es war die Wahrheit gewesen, auch wenn sie die Bedeutung dieser Worte anders aufgefasst hatte.
Sie würde nicht unsichtbar werden, und er hatte nie vorgehabt, das Märchen von einem prinzessinnenverschlingenden Daimon zu erzählen. Ihr Verschwinden aus der Welt würde vor über hundert Zeugen stattfinden. Sie schluckte, kämpfte mit den Tränen. Es war zu spät, um noch etwas zu verhindern. Selbst wenn sie sich aus dem Versteck erhob und den mit Felsbrocken übersäten Hang hinablief, würde sie den Opferplatz nicht mehr rechtzeitig erreichen.
Der Daimon war gekommen, um ihr sein Leben zu schenken! Wenn Shaya vor so vielen Zeugen starb, würde es nie mehr irgendwelche Fragen geben. Er hatte alles geplant. Niemand hatte den Daimon kommen sehen. Niemand hatte gesehen, wie sie aus dem Fenster gestiegen war. Alle würden sie dieselbe Geschichte erzählen: dass die Kriegerprinzessin mit stolzerhobenem Haupt, ohne ein Zeichen von Angst zum Opferstein gegangen war.
Kara ging zu der falschen Shaya, nahm sie in die Arme und verabschiedete sich von ihr. Dann legte sich der Daimon auf den Opferstein. Labarnas Krieger kamen und hielten ihn an Armen und Beinen fest, obwohl er kein Anzeichen von Widerstand zeigte.
Kara wurde feierlich das Opfermesser überreicht. Sie trat neben den Altar. Dreimal hob sie die goldene Klinge und dreimal ließ sie sie wieder sinken. Sie konnte es nicht über sich bringen. Ein Mann mittleren Alters, leicht untersetzt, im Festgewand eines Išta-Priesters, löste sich aus der Gruppe der Gäste, die wohl mit Labarnas Kriegern gekommen waren. Er nahm der Mutter der Mütter das Messer ab, streckte die Klinge dem Himmel entgegen und sprach offensichtlich ein paar feierliche Worte. Dann fuhr das Messer hinab. Mit einem Schnitt durchtrennte es die Kehle der Prinzessin. Blut spritzte auf und durchtränkte das weiße Kleid.