Lauter Jubel brandete auf, als der falsche Ansur sich nach diesen Worten abwandte, die Treppe hinaufstieg und zwischen den Säulen verschwand.
Auch Gonvalon zog sich zurück. Die Worte hatten ihn aufgewühlt. Selbst wenn es nicht Ansur war, der dort oben gestanden hatte, zweifelte er nicht daran, dass der Redner ausgesprochen hatte, was der Unsterbliche dachte. Dieser Krieg durfte nicht beginnen!
Als der Dunkle ihm vom Plan der Himmelsschlangen berichtet hatte, die Devanthar und Unsterblichen alle in einem Augenblick zu vernichten, hatte er das für gut befunden. Es schien das einzig Richtige zu sein. Doch heute würde dies nicht gelingen. Gonvalon war sich sicher, dass die Götter und Herrscher nicht in dieser Halle über den Krieg beratschlagten. Sie hatten sich an einen anderen, geheimen Ort zurückgezogen. Er musste den Himmelsschlangen das Zeichen geben, nicht anzugreifen!
Er sah sich um und ging dann nach Norden. Die Masse der Menschen drängte in die entgegengesetzte Richtung zu den Zelten, wo jeder kostenlos Speis und Trank erhielt.
Den Umhang auf einem der Dächer auszubreiten, wie es der Dunkle vorgeschlagen hatte, würde nicht gelingen. Überall standen Krieger. Es war unmöglich, unbemerkt von ihnen auf eins der Dächer zu gelangen. Aber er hatte am Morgen einen kleinen Platz nahe einer Säulenhalle, ein Stück den Hang hinauf, gesehen. Dort würde er das Zeichen geben, dass die Himmelsschlangen nicht angreifen sollten.
Der Dunkle würde enttäuscht sein. Er war sich so sicher gewesen, dass sie die Devanthar heute vernichten würden. Er hatte Gonvalon mehrfach eingeschärft, dass als Signal für den Angriff das blaue Innenfutter des Umhangs nach oben zum Himmel weisen musste. Sollte es keinen Angriff geben, war der Mantel so hinzulegen, dass die rote Seite nach oben wies. Gonvalon hatte zweimal nachgefragt, ob er richtig verstanden hatte. Ihm war die Wahl der Farbe für den Angriff eigenartig vorgekommen. Hätte er seine Befehle vom Goldenen bekommen, dann hätte es ganz gewiss geheißen, dass die Farbe des Blutes das Zeichen sei, mit dem Werk der Vernichtung zu beginnen. Aber die beiden Nestbrüder waren so verschieden wie Tag und Nacht. Da war es wohl nur folgerichtig, dass der Dunkle ein anderes Verständnis von Farben hatte.
Es hatte wieder angefangen zu regnen. Gonvalon beeilte sich. In zwei oder drei Stunden würde er wieder bei Nandalee sein. Das Wiedersehen würde keine Freude werden. So wie er sie kannte, würde es einige Tage dauern, bis sie ihm verzeihen würde, was er getan hatte. Und dann würde sie keine Ruhe geben, bis er sie lehrte, wo sie den Nervenpunkt fand, der Elfen zu lähmen vermochte.
Er suchte in der Säulenhalle am Marktplatz Unterschlupf. Einige Händler hatten im Trocknen ihre Stände aufgeschlagen und verkauften Schmuck und auserlesene Stoffe. Gonvalon fragte sich, wie diese Stadt überleben wollte. Bislang hatte er nirgends einen Bauern gesehen, der Obst und Gemüse anbot. So schön Selinunt auf den ersten Blick erschien, war die Stadt letztlich doch nichts als Stein gewordener Größenwahn.
Gonvalon nahm den durchnässten Umhang von den Schultern. Der Regen würde nicht nachlassen. Er sollte es besser hinter sich bringen, statt noch weiter zu warten. Eilig trat er auf den kleinen Platz hinaus und breitete mit einem Schwung seinen Umhang aus, sodass die rote Seite nach oben wies. Ihm war nicht ganz klar, wie die Himmelsschlangen sehen wollten, was er tat. Zweifelnd sah er erneut zum grauen Himmel hinauf, dann suchte er in der Säulenhalle Schutz vor dem Regen.
»Wäre es nicht einfacher, den Mantel zu einer Wäscherin zu bringen«, fragte ihn ein Goldschmied, der verwundert seinem Treiben zugesehen hatte.
»Ich bin geizig«, erwiderte Gonvalon knapp. Er hatte keine Lust, in ein Gespräch verwickelt zu werden. Andererseits … Er musterte die Waren, die der Händler auf einem dunkelblauen Tuch ausgebreitet hatte. Vielleicht könnte er Nandalee mit einem schönen Schmuckstück gnädig stimmen. Er lächelte. Endlich gestattete das Schicksal ihm eine glückliche Liebe. Die Stadt würde nicht untergehen, und ihm war sein Leben geschenkt worden. Er würde zu Nandalee zurückkehren. Und er wollte ihr nicht mit leeren Händen entgegentreten.
»Seht nur! Die Götter schieben die Wolken vom Himmel!«, erklang eine Stimme in frömmlerischer Ergriffenheit. Trotz des Regens verließen etliche Händler den Schutz des Säulengangs und blickten zum Himmel.
Nach kurzem Zögern trat auch Gonvalon auf den kleinen Platz, um das seltsame Phänomen besser beobachten zu können. Eine Lücke, die an einen langen Tunnel erinnerte, hatte sich in den Wolken aufgetan, genau über ihnen. Es war ganz so, als stünden sie im Auge eines Wirbelsturms, dachte Gonvalon. Blitze flackerten entlang der Innenwand des Tunnels, und ihre vielfach gegabelten Arme griffen von dort weit in die bleigrauen Wolken hinaus. Nie zuvor hatte der Elf ein solches Himmelsphänomen beobachtet. Warmer Wind strich durch den Tunnel auf den kleinen Platz hinab. Er trug einen ihm vertrauten Wohlgeruch mit sich. Den Geruch von Drachen.
Das konnte nicht sein! Er hatte doch das Zeichen gegeben, nicht anzugreifen. Ganz am Ende des Tunnels erschien Licht, und einen Moment lang sah es aus, als blicke ein großes, weißes Auge auf Selinunt hinab. Gonvalon wandte sich ab. Er lief, wie er noch nie in seinem Leben gelaufen war, um in der Säulenhalle Deckung zu finden, als vom Himmel ein Licht stach, so hell, dass alles in seinem Schein verging.
Der Pakt der Unsterblichen
Regen trommelte auf das Dach des Beratungszeltes. Vom nahen Fluss zogen Nebelschwaden durch das Zeltlager. Alle hatte eine gedrückte Stimmung erfasst, und im Zelt wurde seit Stunden nur gestritten. Sie würden niemals zueinanderfinden, dachte Artax niedergeschlagen. Die Devanthar hatte er von seinen Ideen überzeugen können, an den Unsterblichen würde er scheitern. Sein Traum, dass sie alle in einem Sinne handeln würden, war an diesem Morgen im Beratungszelt gestorben.
»Wie kommst du darauf, dass einer deiner Katzenkrieger so viel wert ist wie zehn meiner Reiter?« Madyas, der Unsterbliche von den weiten Grasebenen Ischkuzas, war rot vor Zorn.
»Deine Pferdeschinder können nicht kämpfen«, entgegnete der Unsterbliche von Zapote herablassend. Auch er trug wie seine Jaguarkrieger einen Helm, und sein Gesicht blieb im Schatten hinter den Raubtierfängen verborgen. »Ich weiß, wie viele Pferdemänner meine Krieger auf der Sandebene besiegt haben.«
»Du meinst auf der Hochebene von Kush?« Madyas lachte auf. »Da haben meine Reiter gar nicht gekämpft, du Katzenhirn!«
»Es macht keinen Unterschied, ob sich Krieger von Pferden ziehen lassen oder auf ihnen sitzen«, bemerkte der Zapoter arrogant lächelnd. »Männer, die mit Pferden zusammen kämpfen, sind nichts wert!«
»Das will ich sehen! Jetzt auf der Stelle. Sollen zehn meiner Reiter gegen eine deiner Katzen antreten. Wir werden …«
Weißes Licht trank die Farben aus der Welt. Artax riss schützend den Arm vor seine Augen. Überall im Lager erhob sich Geschrei. Ein plötzlicher Sturmwind zerrte an den Zelten. Pferde wieherten. Zeltstangen splitterten.
Artax warf sich zu Boden, aus Angst, der Sturmwind könne ihn mit sich fortzerren. Blinzelnd öffnete er die Augen. Sie schmerzten, und er sah nur undeutlich. Ein Schatten zog über ihn hinweg. Etwas peitschte in sein Gesicht. Das Zelt! Der Wind hatte es fortgerissen.
Von der Passstraße erhob sich ein Fauchen, als sei ein ganzes Heer von Schlangen vom Himmel gestürzt. Madyas rief nach seinem Pferd.