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So groß war sein Vergehen, dass du ihn nicht richtest, sondern ganz und gar verschlingen willst?

Erschrocken fuhr Nachtatem auf, sich wohl bewusst, dass ihm Blut vom Maul troff. Hinter einem Felsbrocken, der sich schon vor Jahrzehnten aus der Flanke der Pyramide gelöst hatte und nun halb von Wildblumen versteckt in einem Beet lag, trat ein Elf hervor. So als ziehe seine Gestalt die letzten Strahlen des vergehenden Tages auf magische Art an, umgab ihn eine Aureole aus goldrotem Abendlicht. Es war sein Nestbruder, der Goldene. Wann war er gekommen? Hatte er den Streit miterlebt? Hatte er still in ihren Gedanken gelesen und wusste, was Nandalee getan hatte?

Bist du schon lange hier? Nachtatem bemühte sich, die Frage möglichst unverbindlich klingen zu lassen.

Der Goldene hielt seinem Blick stand. Lange genug.

Nachtatem stieg über den Kadaver des Rotrückens hinweg und baute sich vor dem Goldenen auf, der in Elfengestalt neben ihm winzig und zerbrechlich wirkte.

Sonnenwind hat meine Autorität in Frage gestellt.

Der Goldene wich nicht vor ihm zurück, aber er hatte die Warnung verstanden.

Wie dumm, dabei nicht deinen Jähzorn einzukalkulieren. Ich bin froh, Zeuge dieses Vorfalls geworden zu sein, gibt er mir doch die Weisheit, darauf bedacht zu sein, dich nicht unwissentlich herauszufordern, Bruder.

Nachtatem wollte etwas erwidern, doch die Silhouette des Flammenden erschien über den westlichen Bergen. Nun war nicht die Zeit, kleinliche Fehden auszutragen. Es galt, gemeinsam das große Werk zu vollenden, aus dem ihre Rache an den Devanthar erwachsen würde.

Fleisch

Volodi war angenehm überrascht, als er das Obergeschoss des kleinen Hauses betrat und auf den weiten Garten hinabblickte. Gut, dieses Quartier konnte es nicht mit dem Luxus des Freudenhauses aufnehmen, in dem Kolja residiert hatte, aber davon abgesehen war er noch nie besser untergebracht gewesen. Gleich als er in den durch hohe Mauern abgeschirmten Bereich gebracht worden war, in dem jene Männer lebten, die irgendwann einmal auf dem Altar der Geflügelten Schlange enden sollten, war ein Diener zu ihm gekommen und hatte gefragt, welche Speisen er bevorzugte. Und der Kerl hatte das ernst gemeint, obwohl er mit dem Elfenbeinstäbchen, das er sich durch die Nase gebohrt hatte, einigermaßen lächerlich aussah.

Volodi hatte sich erst ein wenig überrumpelt gefühlt. Was er gerne aß, war er nicht mehr gefragt worden, seit er das Langhaus seines Vaters verlassen hatte. Er hatte sich schließlich ein saftiges Stück Hirschbraten und Honigwein gewünscht. Der kleine Nasenverstümmler hatte nicht mit der Wimper gezuckt, als er seine Wünsche geäußert hatte. Ob es hier auf Nangog Hirsche gab?

Volodi wandte sich vom Fenster ab und blickte auf das breite Bett, das das Zimmer beherrschte. Es bestand aus einem gemauerten Sockel mit einer dick gepolsterten Auflage. Skeptisch setzte er einen Fuß darauf. Sie war ungewöhnlich weich. Mit Stroh war sie nicht gefüttert.

Er ließ sich der Länge nach auf das Bett fallen. Die Unterlage federte. Womit sie wohl gefüllt war? Er zog das lächerlich kleine Messer, das Neca…, Nikhu… Verdammter Name! Welcher Drusnier konnte sich schon merken, wie so ein verfluchter Zapote hieß! Sein Beinahe-Schwager, der sich gerne als schwarze Katze verkleidete, hatte ihm das Messer überlassen. Zuvor hatte er behauptet, es sei für einen Krieger eine grobe Beleidigung, ganz unbewaffnet zu sein. Natürlich hatte sich Neca…, sein Schwager, nicht verkneifen können, ihn darauf hinzuweisen, dass er den Rest seiner Tage gefesselt auf einer Bodenmatte liegen würde, sollte er es sich einfallen lassen, irgendeinen anderen der Auserwählten mit dem Messer zu verletzen. Was Neca nur von ihm dachte! Als ob er herumlaufen und zum Spaß Leute aufschlitzen würde.

Volodi betrachtete sein Lager und überlegte, an welcher Stelle er das Tuch aufschlitzen sollte, um nachzuschauen, womit dieses Bett gepolstert war. Er hatte einmal davon gehört, dass man Rosshaar zum Polstern verwenden konnte. Aber das musste eine dumme Lüge sein. Ein vernünftiger Mann schmückte vielleicht mit einem Rosshaarschweif seinen Helm, aber man stopfte es doch nicht in ein Bett, wo es doch Heu oder Stroh für so etwas gab. Vielleicht Schafwolle?

Er rutschte zum Fußende des Betts und schnitt die Unterlage eine Handbreit auf. Das Steinmesser war überraschend scharf. Mit spitzen Fingern griff er zwischen das Leinen und zog etwas Bauschiges, Weiches heraus. Es sah ein bisschen aus wie eine Kugel aus Schafswolle. Seltsam. Volodi schnupperte daran. Nach Schaf roch es nicht. Er nahm sie in den Mund. Es schmeckte auch nicht wie Schaf. Sehr seltsam.

Er streckte sich wieder lang auf dem Bett aus. Wie es wohl sein würde, Quetzalli wieder zu begegnen. Hatte sie ihn verraten? Ganz zu Anfang sicher. Sie hatte seine blonden Haare gesehen, ihn herausfordernd angelächelt und ihn mit der Absicht in ihr Federhaus gebracht, ihn bald auf den Opferaltar zu schleppen. Wenn er den Worten ihres Bruders traute, dann war sie darin vor ihm auch sehr erfolgreich gewesen. Ja, angeblich hatte sie sogar einigen ihrer Opfer selbst die Brust aufgeschnitten, um der Gefiederten Schlange deren Herzen zu schenken. Was also war an ihrem letzten gemeinsamen Abend mit ihr geschehen? Sie hatte ihn gedrängt, aus dem Fenster zu springen. Wollte sie ihn retten? War etwas anderes schiefgelaufen, das er nicht verstand?

Volodi zog den flauschigen Klumpen, der kein Schaffell war, aus dem Mund und betrachtete ihn nachdenklich. Er konnte mit Quetzalli nicht reden. Sie würde ihm nicht erklären können, warum sie ihn zum Fenster geschickt hatte. Sie verstand kein einziges Wort seiner Sprache. Vielleicht war das auch besser so …

»Auserwählter?«, erklang die näselnde Stimme seines Leibkochs von unten. »Das Essen!«

»Bring es hoch!« Volodi setzte sich auf und lauschte den Schritten auf der Treppe. Und dann roch er es: den Duft gebratenen Fleisches.

»Ein Hirschbraten«, verkündete der Zapote breit grinsend. Dann nickte er zu dem Krug neben dem Bratenteller. »Und Honigwein.«

Volodi konnte es nicht glauben. Gierig griff er nach dem Braten und verbrannte sich die Finger an dem heißen Fleisch. Fluchend ließ er wieder los und wühlte nach dem Steinmesser, das unter die Decke gerutscht war. »Wie hast du das geschafft? Das … das ist tatsächlich Hirschbraten, nicht wahr?« Er fand das Messer, entschied sich aber, erst einmal von dem Honigwein zu kosten. Er war wunderbar! Leicht gekühlt, ein wenig klebrig. Es gab nichts Besseres.

»Sagen wir einmal so …« Sein Diener grinste noch breiter. »Die meisten ehrenwerten Auserwählten, die hier als Gäste weilen, sind Drusnier. Und ihr – versteh mich nicht falsch, das ist keine Beleidigung –, aber ihr seid nicht besonders einfallsreich, was eure Lieblingsgerichte angeht. Wir sind hier inzwischen sehr gut auf eure Wünsche vorbereitet.«

Volodi rammte das Messer in den Braten, hielt das heiße Fleisch mit spitzen Fingern fest und schnitt eine dicke Scheibe ab. Es war perfekt. Aus dem Inneren quoll dunkles Blut. Nicht zu lange gebraten! Der Kerl wusste wirklich, wie man Drusnier glücklich machte. Volodi leckte sich den Bratensaft von den Fingern.

»Ich werde nun nach dem Weib für dich sehen. Sie sollte inzwischen gewaschen sein.« Mit diesen Worten drehte sich der Zapote um und verschwand die Treppe hinab.

Plötzlich war Volodi der Appetit vergangen. Er sah das blutende Fleisch und stellte sich vor, dass er vielleicht schon morgen genauso aussehen würde: ein blutendes Stück Fleisch auf einem Altarstein. Hatte Quetzalli, als sie ihn das erste Mal angelächelt hatte, daran gedacht? Wie ihm zu Ehren ihrer Götter die Brust aufgeschnitten würde? Wie hatte er sich wünschen können, sie wiederzusehen! Ein verdammter Narr war er.