Выбрать главу

Nandalee blickte in den Tunnel, dem sie folgen sollte. Ein warmer Luftzug kam von dort, der den Wohlgeruch von Drachen mit sich trug. Was wollte Nachtatem von ihr? Warum empfing er sie nicht in der Halle der Gazala oder draußen in den Gärten der Felsoase? Wusste er um ihren Streit mit dem Rotrücken?

Sie streckte die Fackel vor und ging los. Dieser Tunnel war anders als der vorherige. Hier waren die Wände von zarten Gipsblüten bedeckt, die aus den Fugen der Steinquader wucherten. Die Decke war von Ruß geschwärzt. Ein Prickeln überlief die Elfe, und plötzlich war es, als griffe die Faust eines unsichtbaren Riesen nach ihr, um sie vorwärtszuzerren. Das Gefühl dauerte nur einen Herzschlag – dann hatte sich alles um sie herum verändert. Von einem Moment auf den anderen fand sie sich in einer weiten Halle wieder, die sie nie zuvor gesehen hatte. Himmelsschlangen umringten sie.

Erschrocken blickte Nandalee sich um. Alle bis auf eine hatten sich zu dieser Versammlung eingefunden. Auch Elfen waren anwesend: Lyvianne, die geheimnisvolle Zauberweberin aus der Weißen Halle, Bidayn, die sich der Meisterin der Magie verschrieben hatte, auch Nodon, den Befehlshaber der Drachenelfen im Jadegarten, entdeckte sie. Und Gonvalon!

Der Tunnel musste sie zu einem der geheimen Drachenpfade geführt haben, die es einem, ähnlich wie die Albenpfade, erlaubten, weite Distanzen mit einem einzigen Schritt zu überwinden. So war es unmöglich zu sagen, ob sich diese Halle irgendwo unterhalb des Jadegartens oder aber Hunderte Meilen entfernt befand.

Ihr kommt spät, Dame Nandalee.

Die Gedanken des Drachen, die sie heimsuchten, waren wie ein plötzlicher Guss Eiswasser in den Nacken. Sie zuckte zusammen. Es war der Goldene, der das Wort an sie gerichtet hatte.

Alle Blicke ruhten auf ihr. Sie spürte die Missbilligung der Drachen, ihren Zweifel, ihren Zorn. Unwillkürlich duckte sie sich. Es war ihr unmöglich, sich den Gefühlen zu verschließen, die die Himmelsschlangen ihr vermittelten. Sie war zutiefst beschämt. Der Gedanke, die Himmelsschlangen enttäuscht zu haben, war ihr unerträglich.

»Bitte verzeiht. Ich eilte sofort herbei, als ich Nachricht erhielt zu kommen.«

War dies ein Tribunal? Hatten sie sich versammelt, um über sie zu richten, weil sie einen ihrer Drachenbrüder verwundet hatte? Nandalee hob trotzig den Kopf. Der verdammte Rotrücken hatte es nicht besser verdient!

Unser Bruder, der Himmlische, ist tot. Er wurde von den Devanthar heimtückisch ermordet. Nachtatems Gedanken waren umflort von tiefer Trauer, die Nandalee bis ins Herz berührte, sodass ihr unwillkürlich Tränen in die Augen traten. Es war unmöglich, sich den Gefühlen der Himmelsschlangen zu verschließen. Sie waren so überwältigend, wie die Erstgeschlüpften groß waren. Sie blickte zu dem Drachen, der ihr und Gonvalon Zuflucht gewährt hatte. Schatten umwoben seinen schwarz geschuppten Leib. Er wirkte wie Fleisch gewordene Finsternis. Unheimlich. Bedrohend. Ein Raubtier, in dessen Gegenwart sie ein Nichts war. Und doch war da diese verstörende Trauer. Nandalee fühlte, dass er immer noch fassungslos war über den Verlust seines Nestbruders. Gefühle, wie sie ganz und gar nicht zu einem Raubtier passten.

Nachtatem ließ sie an allem teilhaben, was er über den Tod seines Bruders wusste. Wie er binnen eines Herzschlags unter einem Himmel aus Gestein begraben wurde. Beklommen blickte Nandalee zur weiten Decke der Halle hinauf. Waren sie hier unter der Erde, so wie der Himmlische, als er starb?

Ehrenwerte Meister und Novizen, Ihr findet Euch hier versammelt, da ein jeder von Euch auf seine Art einzigartig ist. Es war nicht mehr Nachtatem, der nun in ihren Gedanken sprach. Der Goldene führte das Wort, und seine Gedanken wurden getragen von verhaltenem Zorn und von einem Pathos, dem sich zu entziehen unmöglich war. Von einer Himmelsschlange einzigartig genannt zu werden, war eine Gunst, die wohl kaum einem Elfen zuvor widerfahren war.

So wie ein guter Stahl aus Eisenstangen mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften geschmiedet wird, so sollt Ihr von heute an in Eurer Verschiedenheit doch untrennbar miteinander verbunden sein. Ihr seid unser heißer Stahl der Rache, und Ihr werdet unsere Feinde dort verwunden, wo sie am wenigsten mit einem Angriff rechnen. Ihr werdet Angst in ihre Herzen säen!

Unsere Schwerter zu sein, das war von Anbeginn der Zweck der Drachenelfen, doch nie zuvor wurden Eure Brüder und Schwestern auf eine Probe gestellt, wie sie Euch nun bevorsteht. Gehört Ihr uns, mit Euren Herzen und Euren Seelen und jeder Faser Eures Leibes?

»Ja«, erklang es im selben Augenblick aus ihrer aller Münder, als sprächen sie mit nur einer Stimme.

Es wird die Dame Nandalee sein, die Euch bei diesem Feldzug, den Tod des Himmlischen zu sühnen, anführen soll.

Erschrocken blickte Nandalee zum Goldenen auf und wurde fast geblendet von dem Licht, das sich in seinen Schuppen spiegelte. Sie spürte sein Vertrauen in sie. Was sie überraschte, hatte sie doch mit ihren Taten in der Tiefen Stadt sein Missfallen erregt. Auch wurde sich Nandalee bewusst, dass alle übrigen Elfen sie anstarrten. Abgesehen von Bidayn war sie die Unerfahrenste hier. Ihr stand diese Ehre nicht zu!

Ich spüre Eure Verwunderung, Albenkinder. Ja, in einem Herzen glimmt gar Hass. Der Smaragdene neigte sein Haupt, um ihnen zu bedeuten, dass er es war, der nun seine Gedanken mit ihnen teilte. Wähnt nicht, es sei eine Intrige, wenn unsere Wahl auf die Dame Nandalee fiel. Eine ihrer besonderen Eigenarten ist es, dass ihre Gedanken nicht zu lesen sind. Unser Plan ist so kühn, dass er nicht aufgedeckt werden darf, bevor er zur Vollendung kommt. Es mag sein, dass Euch übermächtige Feinde begegnen, die in Euren Gedanken mit derselben Leichtigkeit zu lesen vermögen, wie wir es tun. Nur bei Nandalee sind unsere Geheimnisse in Sicherheit. Deshalb wurde sie erwählt. Wir werden sie einweihen in alles, was zu tun ist, und Ihr werdet ihr folgen, ohne zu murren oder an ihren Worten zu zweifeln, denn sie wird unseren Willen in Worte formen.

Nandalee schluckte und spürte, wie sich in ihrem Magen ein Klumpen aus Eis formte. Sie sah den Zorn und die Verachtung in Lyviannes Blick. Nodon ließ sich nichts anmerken, aber ganz gewiss fühlte auch er sich zurückgesetzt. In Bidayns Antlitz spiegelte sich keinerlei Emotion. Sie war zu klug, sich etwas anmerken zu lassen. Bidayn wusste, dass die Himmelsschlangen in diesem Augenblick in ihrer aller Gedanken lasen.

Ich verstehe Euren Unmut, hob der Goldene an. Aber nun zeigt Größe und vergesst ihn. Jeder von Euch wird vor Nandalee treten und ihr für diese Mission Treue schwören. Wir legen die Zukunft Albenmarks in Eure Hände. Zeigt Euch würdig!

Nodon trat als Erster vor und leistete ihr den Treueeid. Nandalee war völlig überrumpelt von der Entwicklung der Ereignisse. Sie wollte diese Rolle nicht, und doch begriff sie, dass sie keine Wahl hatte. Lyvianne sah mit eisigem Blick zu ihr auf, als sie vor ihr niederkniete. »Ich hoffe, du bist als Anführerin so vortrefflich wie als Bogenschützin.«

Bidayn verlor kein unnötiges Wort. Sie leistete ihren Treueeid. Nandalee hoffte, dass ihre alte Freundschaft noch galt. Allein Gonvalon kniete mit einem Lächeln vor ihr nieder. In seinen Augen las sie, wie maßlos stolz er auf sie war. Er würde ihr den Rücken freihalten, ganz gleich, was kommen mochte.

Nun geht und wisset, eines Tages wird ganz Albenmark voller Stolz auf jeden von Euch blicken, denn Ihr alle werdet Helden sein, wie jedes Zeitalter sie nur einmal sieht. Es war wieder der Goldene, der sprach, und seine Worte hatten eine solche Kraft und Würde, dass Nandalees Sorgen schwanden, und sie tatsächlich voller Stolz und Hoffnung war. In wenigen Stunden schon werdet Ihr aufbrechen. Bereitet Euch vor!